Liebe/r Leser/in, das politische Deutschland brodelt, Demokratie live! Linke und AfD gewinnen in Thüringen, die Kanzlerin-CDU zerlegt sich nach der Wahlniederlage selbst. Die Woche beginnt mit der Idee, ein Versprechen zu brechen, nämlich dass die thüringische CDU weder mit Ramelows Linkspartei noch mit der Höcke-AfD gemeinsame Sache machen wolle – und sie endet in einem offenen Machtkampf im Berliner Konrad-Adenauer-Haus. Dass ein gewählter Politiker mit einem gewählten Kollegen spricht, dagegen habe ich grundsätzlich nichts, denn Redeverbote passen nicht in eine Demokratie. Wie oft im Leben gibt es Ausnahmen, konkret im Fall Thüringen tue ich mich in dieser Hinsicht schwer, dazu aber später. Denn wirklich bedeutend scheint mir in erster Linie etwas anderes: die aktuelle Zukunftsunfähigkeit von Politik und Wirtschaft in Deutschland. Die Bundesrepublik hatte immer das Glück, dass im entscheidenden Moment Persönlichkeiten zur Verfügung standen, die den Erfordernissen der Zeit gerecht wurden. Konrad Adenauer war zur Stelle, als das Land nach dem monströsen NS-Verbrecherregime ohne Eliten war. Später kam Willy Brandt, der die Bonner Republik mit neuer Energie auflud („Mehr Demokratie wagen“) und an die weltpolitischen Realitäten heranführte (Ostpolitik). Als Brandt zum Denkmal seiner selbst erstarrte, löste Helmut Schmidt ihn ab, der erste Staats- und Krisenmanager im Kanzleramt. Auf ihn folgte Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit und des Euro, ein Politiker, der aus der Tiefe der europäischen Geschichte schöpfte. Als seine Amtszeit nach 16 Jahren überdehnt war, kamen Gerhard Schröder und die Grünen. Mit der Agenda 2010 und dem ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr im Ausland passte er das wiedervereinte Deutschland ökonomisch und sicherheitspolitisch an die Erfordernisse der globalisierten Welt an. Auf ihn, den unvollendeten Kanzler, folgte Angela Merkel, die Verwalterin. Bis heute ist mir unklar – abgesehen von übernommenen Positionen anderer Parteien –, was die Kanzlerin wirklich umtreibt, was sie antreibt, wofür die Christdemokratin eigentlich steht. Nach 14 Jahren Kanzlerin Merkel und zehn Jahren GroKo sind erstmals Union und SPD zeitgleich sowohl inhaltlich wie personell zu Tode erschöpft. Das Erbe der Merkel-Jahre ist die AfD – und ein gespaltenes Land. Nun ist es nicht so, dass die Deutschen sich nicht für Politik interessieren würden, im Gegenteil, das zeigt die wachsende Teilnahme an Wahlen. Die Bürger interessieren sich nur immer weniger für die traditionellen Volksparteien. Ob nun Scholz plus eins oder ein anderes Duo die SPD führt, ob nun AKK, Merz oder Laschet Merkel beerben, berührt die Leute offenbar nicht wirklich. Und ein Wunderknabe nach österreichischem Vorbild steht hierzulande nicht zur Verfügung. Auch deshalb laufen die Leute extremen Kräften nach. Ja, wir erleben eine Zeit des Übergangs: Noch ist Deutschland der Stabilitätsanker in Europa. Gleichzeitig breitet sich das Gefühl aus, dass wir den Herausforderungen in vielen Bereichen nicht mehr genügen. Wer hat die Kraft, diesem ewig an sich selbst zweifelnden Land den Weg in eine gute Zukunft zu weisen? Mir fällt es schwer, an Annegret Kramp-Karrenbauer zu glauben, sie erlebt zurzeit den Andrea-Nahles-Effekt. Ich denke AKK – Andere Können Kanzler! Zu Thüringen wollte ich noch etwas sagen: Ich war überrascht, dass CDU-Landeschef Mike Mohring tatsächlich in Erwägung zog, mit der Linkspartei zu kooperieren. So nett Landesvater Ramelow auch rüberkommen mag: In seiner Partei steckt auch 30 Jahre nach dem Mauerfall der Geist des Gestern (Enteignung), alte Kader zum Beispiel, die als Lehrer damals Schüler wie mich (ich bin Ossi) nach Hause zum Umziehen schickten, weil wir Westjeans trugen. Aber schockiert war ich, dass sich manche in der Thüringer CDU darüber Gedanken machen, wie man doch noch mit der Höcke-AfD zusammenkommen könne. Der menschenverachtende Geschichtslehrer Höcke („Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“) ist für mich ein No-go-Typ. Irgendwie passt die Titelzeile auf dem Cover zur aktuellen Politik in Deutschland: Wenn der Körper die Seele krank macht – ab Seite 70. Mit unseren Parteikörpern ist es derzeit zum Verrücktwerden. |