Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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30. Juni 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
Ende Juni und draußen scheint die Sonne, was man aber nicht mehr als „schönes Wetter“ bezeichnen soll, wie ich in meiner Zeitung lese, weil das Adjektiv „schön“ verschleiert, dass der Klimawandel am Sonnenschein schuld ist, oder, wie die Entschiedeneren sagen, an der Erderhitzung. Also kein schönes Wetter, sondern heiß und zu trocken und überhaupt.

Und was heißt da schon „meine“ Zeitung, in der ich gelesen habe, dass „schön“ und „Sonne“ nicht mehr zusammenpasst? Also „meine“ Zeitung war das ja in Wirklichkeit nie. Jedenfalls nicht juristisch, weil sie die erste Zeit, in der ich da angestellt war, einem Konglomerat Münchner Erben gehörte. Der größte Teil dieses Konglomerats ballonfahrender, briefmarkensammelnder, brionitragender Erben und Erbinnen verkaufte die Zeitung in der zweiten Zeit, die ich da angestellt war, einem kopfstärkeren Konglomerat unmünchnerischer Erben, von denen keiner Brioni trug und die man, wenn man das musste, über die A 8 westwärts erreichen konnte. (Der Zug war mir immer zu voll und zu unpünktlich.)

Mit den Vertretern des zweiten Konglomerats, Vertreterinnen waren nicht darunter, durfte ich mich als Mitglied der Chefredaktion 15 Jahre näher auseinandersetzen. Erstaunlicherweise hat das mein faktenwidriges Gefühl, bei der SZ handele es sich doch irgendwie um „meine“ Zeitung, verstärkt. Als die Goten im Jahre des Herrn 410 Rom einnahmen, fühlten sich auch die Römer noch einmal besonders römisch. Und außerdem glaube ich bis heute, dass Sonnenschein schönes Wetter bedeutet.

Sie merken schon, diese Kolumne ist heute leicht retrospektiv gestimmt. Im Schreibtisch „meines“ Büros habe ich einen dicken Termin- und Sonstetwaskalender gefunden, in dem das Jahr 1998 ausgefüllt war, das Kalendarium fürs Jahr 1999 aber noch ungeöffnet in Zellophanhülle (DM 8,99) lag. Im hinteren Teil des kleinen Ringbuchs gab es Klarsichteinlagen für Visitenkarten, wo sich aus meiner USA-Zeit zum Beispiel die Karte von Martin Walker fand, der damals für den Guardian aus Washington berichtete und der heute als Bestsellerautor die südfranzösischen Bruno-Krimis schreibt. Walker musste jedenfalls nie auf der A 8 nach Stuttgart fahren, um dort über Etatprobleme zu reden. All die Adressen, Titel, Nummern und Namen aus dem Ringbuch wohnen heute im Telefon. Der „Executive Time Planner“, den ich einst durch die halbe, nein, die ganze Welt schleppte, kommt jetzt in die Umzugskiste. Ich werd ihn wahrscheinlich nicht mehr anschauen, aber für den Fall, dass ich mich an ihn erinnern sollte, wüsste ich wenigstens, dass ich ihn finden könnte, vergäße ich nicht in der Zwischenzeit, wo.

Ich nehme mal an, nicht wenige halbwegs regelmäßige Leserinnen und Leser dieser Kolumne haben auch das Gefühl, die SZ sei „ihre“ Zeitung. Das ist das Beste, was einer Redaktion (und sogar einem Verlag) passieren kann. Man kann die Zeitung jeden Tag aufs Neue besitzen, ohne dass einem deswegen der Laden gehört. Die tägliche Form des Nutzungsbesitzes, sei es auf Papier oder auf dem Bildschirm, ist letztlich ersprießlicher, als Anteilseigner am Verlag zu sein. Wenn etwas, was man gerne hat (oder gerne macht), zu einem Objekt wird, das dem Gelderwerb, dem Ausleben organisatorischer Triebe oder gar dem Vermögenserhalt dient, verliert es seinen besonderen Charakter. Es wird, hin und wieder zitiere ich den alten Mann aus Trier gern, „geronnene Arbeit“. Geronnene Arbeit ist etwas wert, auch wenn sie nicht immer so bezahlt wird.

Wenn eine Zeitung gut gemacht ist, wenn die Leserschaft sie als positiven Teil des Alltags „versteht“, wenn sie in diesem Sinne dazugehört, dann kann die Zeitung etwas bieten, was nicht mehr so häufig ist: ein Gefühl von Heimat.

Das ist Ihnen jetzt ein bisschen zu sülzig? Ich bitte um Vergebung, aber an diesem Samstag scheide ich nach 40 Jahren aus der Redaktion der Süddeutschen aus, ich habe die Regelaltersgrenze erreicht. In einfachem Deutsch: Ich gehe in Rente. Es war eine sehr lange Zeit, aber im Moment erscheint es mir so, als seien Ronald Reagan und Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Bill Clinton, Angela Merkel, eine Pandemie, ein paar Kriege, drei Dutzend Verleger sowie Washington, München, Bonn und Berlin mit Siebenhundert-Meilen-Stiefeln an mir vorbeigerauscht.

Weil das so ist, geht auch der „Deutsche Alltag“ jetzt mindestens in eine lange Sommerpause. Wenn höhere Mächte es wollen, erscheint er wieder Anfang Oktober, kurz bevor Hubert Aiwanger die Demokratie dergestalt zurückholt, dass Markus Söder mit Hilfe der Freien und der nicht ganz so freien Wähler noch einmal Ministerpräsident in Bayern wird. Sollte ich allerdings im Laufe des Sommers feststellen, dass mir die Zeitung auch ohne mich genug Heimat bleibt, werde ich nicht mehr ...

Aber die Chefredakteurin hat gesagt, ich solle deutlich machen, dass ich auch als Rentner nach einer Pause weiter für die SZ schriebe. Das habe ich hiermit getan. Wie sich das dann in der später eintretenden Realität, die heute noch die Zukunft ist, widerspiegeln wird, weiß man erst, wenn die Zukunft die Gegenwart ist. Ob die Gegenwart überhaupt eine Zukunft haben soll, wird gerade in einer Projektgruppe der Chefredaktion diskutiert.

Ich wünsche einen wunderbaren Sommer, schönes Wetter und bleiben Sie heimatverbunden, also SZ-Leserin oder -Leser.
Kurt Kister
Redakteur
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