In seinem Urteil über das Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Ankauf von Staatsanleihen in den vergangenen fünf Jahren kam das Bundesverfassungsgericht am 5. Mai zu einem schwerwiegenden Ergebnis: Die EZB und der Europäische Gerichtshof, der das Programm für rechtens erklärt hat, haben das deutsche Grundgesetz verletzt. Sie haben sich Kompetenzen angemaßt, die ihnen nicht zustehen. Das Urteil ist zu respektieren. Aber das ändert nichts daran, dass es ökonomisch gesehen mehr als fragwürdig ist. Es beruht auf einem unvollständigen und somit falschen Verständnis von Geldpolitik. Deutschland begibt sich in einen potenziell gefährlichen Konflikt mit Europa, der zumindest aus volkswirtschaftlicher Sicht völlig unnötig ist. Das Wesen der Geldpolitik Laut Europäischem Vertrag muss die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank vorrangig darauf ausgerichtet sein, die Stabilität der Verbraucherpreise zu wahren. Zu diesem übergeordneten Zweck muss die Geldpolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage so steuern, dass sich aus dem Zusammenspiel mit dem gesamtwirtschaftlichen Angebot die angestrebte Stabilität des Preisniveaus ergibt. Anders als der Staat mit seiner Steuer- und Ausgabenpolitik kann die Zentralbank nicht direkt zur Nachfrage beitragen. Stattdessen kann und muss sie die Finanzierungsbedingungen für alle Teilnehmer am Wirtschaftskreislauf so beeinflussen, dass sich dann als Summe der einzelnen Spar- und Ausgabenentscheidungen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wie gewünscht entwickelt. Indem die Zentralbank die Finanzierungskosten aller Teilnehmer am Wirtschaftskreislauf ändert, betreibt sie keine monetäre Finanzierung der privaten Haushalte, der Unter-nehmen oder des Staates. Stattdessen ist dies die notwendige Art, um ihren geldpolitischen Impuls auf die reale Wirtschaft zu übertragen und so die gewünschte Preisstabilität erreichen zu können. Wenn Inflation droht, muss die Zentralbank den Anreiz stärken, Geld zu sparen statt Kredite aufzunehmen und Geld auszugeben. Droht dagegen eine Deflation oder steigt das Risiko, dass sie ihr rechtmäßig gesetztes Inflationsziel erheblich und nachhaltig unterschreiten könnte, muss sie über ihre Geldpolitik einen Anreiz setzen, mehr Kredit aufzunehmen und mehr Geld auszugeben, statt es zu sparen. Dass die Geldpolitik die Finanzierungsbedingungen für alle Beteiligten und damit eben auch für Staaten ändert und neben den Kreditkonditionen auch die Ertragsaussichten für Sparer sowie die Überlebenschancen von Unternehmen entsprechend beeinflusst, ist nicht eine möglicherweise unerwünschte Nebenwirkung der Geldpolitik, wie es das Bundesverfassungsgericht darstellt. Stattdessen ist es schlicht der wesentliche Wirkungskanal der Geldpolitik. Geldpolitik in Zeiten weltweit niedriger Zinsen Für ihre Geldpolitik stehen der Zentralbank vor allem zwei Instrumente zur Verfügung: Erstens kann sie die Leitzinsen ändern. Dies wirkt sich direkt auf die kurzfristigen Finanzierungskosten aus. Zweitens kann sie Anleihen kaufen oder verkaufen. Damit verändert sie die umlaufende Menge an Zentralbankgeld und beeinflusst ebenso direkt die Kurse und Renditen der Anleihen. Weltweit sind die Zinsen seit langer Zeit außergewöhnlich niedrig, in der Schweiz sogar noch mehr als in Deutschland. Auf längere Sicht ergibt sich das Zinsniveau vor allem aus dem Gleichgewicht zwischen dem Angebot an Sparkapital und der Nachfrage nach diesem Kapital. Dieses Gleichgewicht hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten nach unten verschoben. Viele Faktoren, die von der Demografie bis hin zu einem Wandel von einer kapitalintensiven Industrie zu einer bildungsgetriebenen Wissensgesellschaft reichen, tragen dazu bei, dies zu erklären. Die Geldpolitik der Zentralbanken spielt darin nur eine kleine Rolle. Denn mit ihrer Geldpolitik prägt die Zentralbank nur das kurzfristig konjunkturelle Auf und Ab der Realzinsen um den langfristigen Trend, kaum aber diesen Trend selbst. Je niedriger die Zinsen bereits sind, desto geringer ist der Spielraum für eine Zentralbank, ihre Leitzinsen bei Bedarf weiter zu senken. Auch mit Rücksicht auf die möglichen Folgen für die Finanzstabilität ist die EZB deshalb im Umfeld weltweit niedriger Zinsen dazu übergegangen, die Finanzierungsbedingungen der Gesamtwirtschaft vor allem über Kaufprogramme für Anleihen statt über ihre Leitzinsen zu steuern. Da die Zentralbank gehalten ist, Bilanzrisiken gering zu halten, machen Staatsanleihen einen erheblichen Teil ihrer Käufe aus. Staatliche Papiere weisen zumeist eine höhere Bonität auf als Unternehmensanleihen. Deren Bestand ist in der Eurozone zudem zu gering, um ein umfangreiches Ankaufsprogramm allein mit solchen Anleihen bestreiten zu können. In gewissem Sinne hat sich das Verständnis der Geldpolitik in den letzten zwei Jahrzehnten geändert: In den ungewöhnlichen Zeiten, in denen die reine Zinspolitik weitgehend ausgereizt ist, müssen Zentralbanken vermehrt das ansonsten eher als ungewöhnlich geltende Instrument der Anleihekäufe einsetzen, um ihr geldpolitisches Ziel zu erreichen. Die Europäische Zentralbank entspricht damit der international üblichen Praxis sowie dem Stand der internationalen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion. „Best global practice“ würde man dies auf Englisch nennen. Die Frage der Verhältnismäßigkeit Konkret wirft Karlsruhe der EZB vor, sie habe die Verhältnismäßigkeit ihres Programms zum Ankauf von Staatsanleihen nicht nachvollziehbar erläutert. Aus drei Gründen wird dieser Vorwurf dem Sachverhalt nicht gerecht. Erstens begründet die EZB all ihre Entscheidungen unmittelbar danach auf einer Pressekonferenz. Sie steht regelmäßig dem für sie zuständigen Europäischen Parlament Rede und Antwort. Mit den Aufsätzen, Reden und Berichten, mit denen sie alle wesentlichen Aspekte ihrer Geldpolitik einschließlich der Wirkungen und Folgen erläutert hat, lassen sich ganze Regale füllen. Im internationalen Vergleich ist die EZB geradezu ein Musterbeispiel an Transparenz. Bemerkenswerterweise haben sich andere Zentralbanken wie die US Federal Reserve und die Bank of England in den vergangenen Jahren hier vermehrt an der EZB ausgerichtet und ebenfalls regelmäßige Pressekonferenzen angesetzt. Dass die Bundesbank sich im deutschen Sprachraum beim Erklären der EZB Politik manchmal etwas zurückgehalten hat, kann man zwar der Bundesbank anlasten, nicht aber der EZB. Zweitens ist beim Hinweis auf Verhältnismäßigkeit ist zu beachten, dass es für die EZB keinen Konflikt zwischen verschiedenen Zielen gibt und geben darf. Es ist nicht Aufgabe der EZB, zwischen dem Ziel der Geldwertstabilität und dem Einfluss ihrer Politik auf andere wirtschaftspolitische Ziele abzuwägen, wie es das Verfassungsgericht fordert. Denn auf deutschen Wunsch hat der Europäische Vertrag der EZB nur ein vorrangiges Ziel vorgegeben, das der Preisstabilität. Einen Zielkonflikt zwischen dem Wunsch der Sparer nach einer auskömmlichen Rendite und dem Sichern der Preisstabilität kann und darf es für die EZB nicht geben. Sie hat die Preisstabilität zu sichern unabhängig davon, was dies für deutsche Sparer oder italienische Lohnbezieher oder den portugiesischen Staatshaushalt bedeuten mag. Würde sie zwischen dem Vermeiden eines Deflationsrisikos und dem Wunsch der Sparer nach Rendite abwägen, würde sie in der Tat ihr Mandat verletzen. Die EZB muss dabei selbstverständlich prüfen, welches ihrer geldpolitischen Instrumente am besten geeignet ist, unter Berücksichtigung aller wesentlichen Folgen das ihr gesetzte Ziel zu erreichen. Droht sie das Ziel nach unten zu verfehlen, hat sie dabei die Wahl zwischen einem niedrigeren Leitzins, um vor allem die Finanzierungskosten am kurzen Ende der Zinskurve zu drücken, oder einem Ausweiten ihrer Anleihekäufe, um vor allem die längerfristigen Renditen zu drücken und so die Kreditnachfrage anzuregen. Konkret heißt dies: würde sie auf einen großen Teil ihrer Anleihekäufe verzichten, müsste sie ihren Leitzins noch mehr in den negativen Bereich drücken, um möglichen Deflationsrisiken zu begegnen. Ob dies im Interesse deutscher Sparer wäre, sei hier dahingestellt. Es würde vermutlich sogar seinen Zweck verfehlen, da die Zinspolitik ja weitgehend ausgereizt ist. Die Folgen für die Stabilität des europäischen Finanzsystems und damit letztlich auch für die langfristige Sicherheit der Spareinlagen könnten dagegen erheblich sein. Natürlich heiligt auch für die EZB der Zweck nicht die Mittel. Aber da sie nur ein vorrangiges Ziel hat, müsste der vermeintliche Schaden, den der Einsatz ihrer geldpolitischen Mittel anrichten würde, schon sehr hoch sein. Sonst kann er nicht rechtfertigen, dass die EZB lieber ein erhöhtes Risiko in Kauf nehmen sollte, ihr vorrangiges Ziel zu verfehlen, statt ihre Instrumente einzusetzen. Die Hürde, um einen missbräuchlichen Einsatz der Geldpolitik festzustellen, liegt also hoch. Genau an dieser hohen Messlatte hat sich der Europäische Gerichtshof orientiert, als er der EZB im Dezember 2018 bescheinigt hat, sie habe ihr Mandat mit ihren Anleihekäufen nicht offensichtlich oder eindeutig („manifestly“) überschritten. Wie andere Institutionen der Europäischen Union darf die EZB beim Einsatz ihrer Instrumente nicht über das ihr gesetzte Ziel hinausschießen. Aber das hat sie mit ihrer alles in allem sehr erfolgreichen Kontrolle des Inflationsdrucks nicht offensichtlich getan. Zum Nachteil der deutschen Sparer? Im Urteil aus Karlsruhe schwingt der Vorwurf mit, mit ihren Anleihekäufen schade die EZB den Sparern. Dieser Vorwurf ist teils übertrieben und teils irreführend. Nach Abzug der Inflationsrate sind die realen Zinsen und Renditen in der Eurozone, für die die EZB zuständig ist, zwar außergewöhnlich niedrig. Aber negative Realzinsen hat es bereits früher gelegentlich gegeben, auch in Deutschland unter der Ägide der Deutschen Bundesbank. Zudem sind die Zinsen und Renditen in Deutschland weit niedriger als in nahezu allen anderen Mitgliedsländern der Eurozone. Das hat nichts mit der Geldpolitik der EZB zu tun, die ja die Finanzierungsbedingungen für die gesamte Eurozone beeinflusst. Ein wesentlicher Grund für die besonders mickrigen Zinsen in Deutschland liegt stattdessen darin, dass bei uns der Kapitalbedarf des Staates zum Glück weit geringer ist als nahezu überall sonst in der Eurozone. Deshalb kann der deutsche Finanzminister seine Anleihen zu besonders hohen Kursen und damit zu besonders niedrigen Renditen verkaufen. Von 2014 bis 2019 hat Deutschland sogar Staatsschulden abgebaut. Dank der „schwarzen Null“ können wir heute aus einer Position der Stärke heraus die Kosten der Pandemie schultern. Die deutsche Finanzpolitik ist den Vorgaben der Schuldenbremse unserer Verfassung mehr als gerecht geworden. Nach der Logik der Karlsruher Einwände gegen die Politik EZB müsste man gerade dies jedoch dem Bundestag und der Bundesregierung zum Vorwurf machen. Denn in ihren Haushaltsgesetzen sind sie nicht hinreichend auf den Schaden für deutsche Sparer eingegangen, der sich aus dem Rückzahlen von Staatsschulden und den daraus folgenden Niedrigstrenditen für Staatsanleihen ergibt. Da Regierung und Parlament nicht dargelegt hätten, dass dieser Schaden nicht schwerer wiege als das Bestreben, die Schuldenbremse des Grundgesetzes einzuhalten, hätten Bundesregierung und Bundestag somit mangels nachvollziehbarer Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Politik der schwarzen Null die Verfassung verletzt. Diese Schlussfolgerung, die sich aus dem Karlsruher Urteil ergeben könnte, zeigt beispielhaft, wie wenig fundiert die Argumente der Richter aus ökonomischer Sicht letztlich sind. Zum Spannungsfeld zwischen deutschem und europäischem Recht kann der Volkswirt wenig sagen. Auch die politische Sprengkraft, die sich für Europa daraus ergibt, dass das Bundesverfassungsgericht auf der Basis einer international nicht anerkannten Interpretation der Geldpolitik dem Europäischen Gerichtshof die Gefolgschaft verweigert, kann der Volkswirt letztlich nicht beurteilen. Aber aus volkswirtschaftlicher Sicht ist die Sachlage klar: die Richter haben sich geirrt. Dr. Holger Schmieding Chefvolkswirt Berenberg +44 7771 920377
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