Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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16. Juni 2024
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
hätte es nicht das Wahlpflichtfach "Rechtsgeschichte" gegeben – das Jurastudium würde mir nur halb so viel Spaß gemacht haben. Ich habe also, es ist Jahrzehnte her, mit Begeisterung studiert, wie und wann und warum welche Gesetze entstanden sind. Ich habe unter kluger Anleitung die Linien gezogen von der Rechtsschule im Bologna des 11. Jahrhunderts hin zu den heutigen europäischen Rechtsbüros in Brüssel. Ich habe gelernt, dass Rechtswissenschaften auch Kulturwissenschaften sind und wie sich die Grundrechtslehren, die Gewaltenteilung und das Widerstandsrecht entwickelt haben. Ich habe gelernt, warum das Recht eine Antwort finden muss auf Brechts nur scheinbar dichterische Frage: "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?" Und das hat mir dann, als ich nicht mehr als Richter Urteile, sondern als Zeitungsredakteur Kommentare zu verfassen hatte, durchaus geholfen.

Man behält aus einem solchen Studium nicht nur die großen Namen und ihre großen Werke. Man merkt sich auch die Namen von Leuten, die irgendwann einmal wichtig waren – die aber nicht die Jahrhunderte geprägt haben. Zu diesen Juristen gehört bei mir ein Staatsrechtler des 19. Jahrhunderts, der Johann Caspar Bluntschli heißt. Den Namen "Bluntschli" fand ich so originell, dass ich ihn, als meine Kinder klein waren, zum Kosewort für sie gemacht habe.

Das Haus Europa und seine Zukunft

Mir ist dieser Bluntschli wieder in den Sinn gekommen, als ich in den vergangenen Tagen über Europa und das Ergebnis der Europawahl nachdachte. Der Züricher Rechtswissenschaftler Bluntschli, der in Deutschland lehrte, hatte nämlich 1878 eine Schrift über "Die Organisation des europäischen Staatenvereins" geschrieben, die ein Denken offenbart, dass bei wichtigen deutschen Verfassungsjuristinnen und -juristen noch heute zu Hause ist – zum Beispiel am Bundesverfassungsgericht. Sie verlangen, wie einst Bluntschli, als Eintrittsvoraussetzung in einen Staat eine einheitliche Sprache und ein einheitliches Staatsvolk. Weil es das nun einmal in Europa nicht gäbe, sei eine Demokratie auf europäischer Ebene schlecht vorstellbar; eine Fünf- oder Dreiprozentklausel, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern, wurde vom höchsten deutschen Gericht in Karlsruhe deshalb nicht als notwendig erachtet. Wenn es also ums Europaparlament gehe, sei quasi eh schon alles egal; es komme dort, in diesem vermeintlichen europäischen Durcheinander, auf noch ein paar Kleinst- und Splitterparteien auch nicht mehr an. Kann es sein, dass die Phantasie der deutschen Staats- und Verfassungsrechtler im Jahr 1878, also beim Nationalstaat, stehengeblieben ist?
SZPlus Prantls Blick
Der Traum vom Haus Europa: Aus und vorbei?
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Wer als Eintrittsvoraussetzung in ein demokratisches Europa Homogenität verlangt, der denkt in den Kategorien des 19. Jahrhunderts. Demokratie ist nicht die Herrschaft einer homogenen Gruppe über die, die nicht dazugehören. Sie ist nicht die Herrschaft eines Kollektivs namens Staatsvolk, sondern Selbstbestimmung von Menschen. Sie ist eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet. Wenn man am Haus Europa weiterbauen will, braucht man einen neuen Geist.

Diesen europäischen Geist wünsche ich uns.

Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Neapel im Sonnenuntergang
Europa aus Pappe
Manchmal schaut Europa aus wie Neapel im Dauerregen: Da laufen Abwasserkanäle über, ein Haus versinkt in Schlammlawinen und die Menschen werden depressiv vor Melancholie. So ergeht es einem nach den Europawahlen vom vergangenen Sonntag. Das europäische Haus, so man überhaupt diese Metapher noch gebrauchen mag, kommt einem vor, als sei es aus Pappe – und vom Regen des Rechtsextremismus und des Rechtspopulismus durchweicht. Es gibt einen wunderbaren Roman darüber: Das Deutschlandradio hat diesen Roman "Malacqua", was auf Deutsch "böses Wasser" heißt, "als Metapher für Europa" bezeichnet. Der Roman ist schon alt, er ist aus dem Jahr 1977; geschrieben hat ihn, glanzvoll, der Journalist Nicola Pugliese; es ist der einzige Roman des verstorbenen Polizei- und Lokalreporters; der Roman ist so vergessen wie sein Autor – aber er ist erschreckend aktuell und spannend. Es gibt eine deutsche Ausgabe des Romans, übersetzt von Barbara Pumhösel, erschienen 2019. Packend. Phantastisch. Zeitlos.

Nicola Pugliese: Malacqua. Vier Tage Regen über Neapel in Erwartung, dass Außergewöhnliches geschieht. Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Pumhösel. Launenweber-Verlag, Köln 2019. Das Buch hat 222 Seiten und kostet 24 Euro
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Strafvollzug im Schließfach
Die Gefängnisse sind aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Das liegt nicht daran, dass es dort weniger Probleme gäbe als früher. Im Gegenteil. Das liegt daran, dass die Föderalismusreform des Jahres 2006 Schlimmes angerichtet hat: Sie hat dem Bund die Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug weggenommen. Für die Gefängnisse und das Recht, das in den Gefängnissen gilt, sind seitdem ausschließlich die einzelnen Bundesländer zuständig. Jedes Bundesland hat seine eigenen Paragrafen, seine eigenen Regelungen gebastelt. Seitdem ist die Debatte über die Zustände in den Gefängnissen marginalisiert und minimalisiert, weil das nationale Forum fehlt. Die Föderalismusreform hat die gesellschaftliche Debatte über den Strafvollzug gekillt. Umso verdienstvoller ist die Analyse der Kollegin Jenny von Sperber in der Süddeutschen Zeitung vom 12. Juni. Auf der Wissen-Seite schreibt sie über die unzureichende medizinische Versorgung in den Gefängnissen; sechzig bis achtzig Prozent der Gefangenen leiden an psychischen Störungen. Wie soll der Gefangene da fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen?
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