Horst von Buttlar Chefredakteur | Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Suche nach einem Nachfolger für Angela Merkel war für die CDU, aber auch für Bürger und Beobachter, eine quälend lange Reise. Erst wurde mit Annegret Kramp-Karrenbauer eine Nachfolgerin gewählt, die bald als schwach und überfordert galt. Die Corona-Pandemie brachte dann ein Jahr Vakuum und Interregnum – ein Jahr, in dem jede Menge Mythen, Narrative und Theorien gesponnen und verbreitet wurden, wo genau die CDU jetzt eigentlich hin soll, wer angeblich wen oder was verhindern will und vor allem, wer jetzt eigentlich der Beste für einen neuen oder gar nicht so neuen Kurs ist. Vor dem Parteitag am Wochenende sind Glaskugeln so ausverkauft wie mancherorts FFP2-Masken, und es gab mehr Anrufe innerhalb der Partei als Bürger bei der Impfhotline durchkamen. Die Frage ist, ob all diese hohen Erwartungen erfüllt werden können: Der Parteitag findet digital statt, es wird also nicht brodeln oder knistern, kein Saal zum Kochen kommen, kein Lagerfeuer brennen, an dem man sich wärmt. Es fehlt also all das, was einen guten Parteitag ausmacht. Durch die lange Wartezeit sind die drei Gesichter der Nachfolger auch nicht mehr so richtig frisch, sondern selbst müde oder in ihren Posen erstarrt. Es wurde zu viel diskutiert, eruiert und taktiert, der Aufbruch wird eine Herausforderung. Die interessanteste Dynamik für die Partei, die Parteienlandschaft und auch die Bundestagswahl brächte nach wie vor Friedrich Merz, der rhetorisch und programmatisch jenes Vakuum füllen soll, um das sich so viele Mythen ranken. Er wäre zugleich jedoch das größte Risiko, weil er sich beratungsresistent gezeigt hat, überschätzt wird und sich selbst überschätzt. Er brächte viel Energie, Ehrgeiz und Ego, er kann den großen Bogen, diese Welt-im-Umbruch-Analysen, aber schreibt sich bisweilen zu große Superheilungskräfte zu. Armin Laschet hat das Problem, dass der Zweite in seinem Tandem, Jens Spahn, von vielen (inklusive Spahn selbst) als eigentlicher Hoffnungsträger gesehen wird. Der Ministerpräsident von NRW gilt als Favorit und wäre die sichere Bank, aber unter ihm könnte sich nicht jene Luft entladen, die sich unter Merkel so aufgestaut hat. Er passt irgendwie zu Deutschland, aber nicht immer zu allen großen Themen, die Deutschland bewegen. Er kann reagieren, aber kann er auch Aufbruch? Der Außenseiter Norbert Röttgen ist und bleibt diese Mischung aus Geheimtipp und Überraschungskandidat. Er kam aus dem Off, aber je länger man ihm zuhörte und zusah, desto mehr konnte man ihn sich plötzlich als Chef der CDU vorstellen. Seine Zauderei von früher war vergessen, das Intellektuelle wirkte nicht mehr so unklar oder verklausuliert; er wirkte smart und weltgewandt und vor allem entspannt; ohne ein platzendes Ego, ohne Gefühle der Rache und Pläne der Abrechnung – und vor allem könnte er dem nach wie vor interessantesten Kanzlerkandidaten im März den Platz überlassen, Markus Söder. Die Frage nach dem Kurs, wohin die CDU gehen sollte, kann man nur mit einem Wort beantworten: nach vorn. Für Parteien gibt es keine Zauberstäbe oder Zeitmaschinen. Wenn die Union ihre Programmatik nur als Selbsttherapie oder Sinnsuche an der rechten Flanke begreift, wird sie enden wie die SPD, deren Politik in weiten Teilen der Exorzismus der Agenda 2010 war. Parteien müssen immer nach vorne denken, nicht zurück. Die Wählerinnen und Wähler interessieren nicht alte Wunden, die Western von gestern und Entscheidungen von vor zehn oder gar 15 Jahren – sondern die Antworten auf die Fragen der kommenden zehn Jahre. Werden die 20er-Jahre dieses 21. Jahrhunderts, die so fürchterlich begonnen haben, trotzdem ein Jahrzehnt des steigenden Wohlstands? Wird Europa ein Museum zwischen China und den USA? Wo kommt das Wachstum in Deutschland her, wenn wir unsere Autoindustrie mit wehenden Fahnen abwickeln und opfern? Was passiert mit diesem Land, wenn es weiter schrumpft? Die Schlagworte der großen Themen sind so oft genannt worden, dass man sie wie Vokabeln herunterrattert: Nachhaltigkeit, Migration, demografischer Wandel, die neue Welle der Automatisierung der Wirtschaft, künstliche Intelligenz und Quantencomputing – es fehlen oft nur schlüssige Antworten, die genau den Aufbruch erzeugen, den alle ersehnen. Zumal ja auch Politiker nach der Bewältigung der Pandemie wieder in einen anderen Modus kommen müssen: Derzeit erfinden sie vor allem immer neue Beschränkungen und Hilfen – bei Ersteren hecheln sie oft hinterher, bei Letzteren überschätzen sie ihre Fähigkeiten, die lahmgelegte Wertschöpfung „schnell und unbürokratisch“ zu ersetzen. Sie werden lernen müssen, dass man nicht für jede Idee mal eben zweistellige Milliardensummen versprechen kann. Sie müssen wieder Maßstäbe und ein Verhältnis zu Zahlen finden. Es wird wieder um Gestaltung statt um Bewältigung gehen. Auch ihre Wähler werden ab Herbst andere Sehnsüchte und Bedürfnisse haben. Wir alle haben uns also verändert. Und das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass es für die CDU mitnichten um einen möglichen Bruch oder um eine Kontinuität der Ära Merkel geht. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende! |