Hinderliche Zeitvorstellungen und Zeitmuster verändern – in vielen Coachings ist das zentral. Es gilt, dem Gehetzten Ruhe, dem Erschöpften einen gesunden Rhythmus von Anstrengung und Entspannung, dem Kurzsichtigen eine längerfristige Perspektive und dem Rückwärtsgewandten einen neuen Blick in die Zukunft zu vermitteln. Auch die Themen Ziele, Achtsamkeit, Glück, Angst, Schuld, Kommunikation und Veränderung haben immer eine – manchmal verdeckte, manchmal offene – zeitliche Dimension. Sie in den Fokus zu nehmen, ist oft ein Schritt in Richtung Veränderung. Wie Zeitvorstellungen uns prägenManche Muster sind destruktiv: Der Klient und der Coach sind gleichermaßen von Zeitkonzepten und -modellen, -vorstellungen und -strukturen erfasst und durchdrungen. Der Coach sollte darüber nachgedacht haben, damit er nicht – unbewusst – bestimmte (selbst)zerstörerische Zeitmuster bei sich selbst und dem Klienten verstärkt. „Ich habe keine Zeit“: Unsere Kultur ist beherrscht von der Vorstellung, Zeit sei „knapp“ und man könne sie „sparen“. Tatsächlich ist die Zeit immer da und es lohnt sich, über sie in einer anderen Weise nachzudenken: Also nicht zu fragen, woher man die Zeit nehmen soll, sondern, was man in der Zeit tun will. Zeit ist nicht Geld, sondern Leben. Von daher kann es auch heilsam sein, über die Zeit wie über das Leben zu sprechen und folgende Sätze auf sich wirken zu lassen: „Ich habe kein Leben. Das Leben läuft mir davon.“ Redewendungen, die einem die Augen öffnen könnten. Erst veränderte Wahrnehmung ermöglicht ein verändertes Verhalten (Klein, 2009). Wir leben in der Zeit: Viele heute populäre Vorstellungen gehen davon aus, dass die Zeit etwas sei, was außerhalb des Menschen und der menschlichen Existenz als ein Ding oder ein Prozess vorhanden ist. Daraus speist sich die irrige Vorstellung, man könne mit der Zeit selbst irgendetwas tun, sie haben, besitzen, verlieren, gewinnen, vertrödeln, sparen oder sogar managen. Tatsächlich können wir höchstens uns selbst managen, Dinge in Eile oder mit Konzentration und Muße tun. Als Menschen leben wir in der Zeit und durch die Zeit. Wir sind ein Teil der Zeit, weil wir selbst zeitliche Wesen sind, was man spätestens dann bemerkt, wenn es ans Sterben geht (Borges, 1981). Hinter Zeitnot steckt die Angst vor der Endlichkeit: Das Problem der Zeitnot hängt mit der Moderne und mit dem Verlust der Ewigkeit zusammen. Nachdem die Vorstellung des individuellen ewigen Lebens im abendländischen Denken nicht mehr kulturprägend ist, ist die Zeit für den Einzelnen knapp geworden. Mit der unbewussten Vorstellung von der Grenzenlosigkeit der Zeit ließ es sich offensichtlich entspannter leben als mit der Vorstellung, dass mit 80 oder 90 Jahren alles vorbei sein wird. Heute soll in einem endlichen Zeitraum schier unendlich viel erlebt oder geleistet werden (Gronemeyer, 1996). Zu diesem Wettlauf gegen die Zeit anzutreten, ist allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt. Glücklicher lebt in der Regel, wer ganz bewusst vom Ende des menschlichen Lebens her auf das Gelingen und die Erfüllung des eigenen Lebens schaut, wie das schon in der griechisch-römischen Antike üblich war. Zeit vergeht nicht, sie entsteht: Auch die unreflektierte und weitverbreitete Vorstellung von dem „Vergehen“ der Zeit ist mangelorientiert und nicht dazu angetan, Zeitsouveränität zu fördern und zu erreichen. Wer als Coach auch in Bezug auf die Zeit ressourcenorientiert denken und handeln möchte, sollte den Fokus bei seinen Klienten und bei sich selbst eher darauf lenken, wie die Zeit immer wieder neu in, vor und für uns entsteht. Ganz ohne unser Zutun (Klein, 2009). In der Gegenwart leben: Da die Vergangenheit vergangen und die Zukunft noch nicht da ist, ist es besonders fatal, wenn man genau in der Gegenwart, im Moment, mental und emotional abwesend ist. Entweder weil man noch in der Vergangenheit verweilt – die Minuten oder Jahre zurückliegen kann – oder weil man von der Zukunft träumt oder sich vor ihr ängstigt. Zum Glück ist unser Körper immer da, wo er gerade ist, und damit ständig in der Gegenwart. Deshalb beginnt jede Achtsamkeitsübung klugerweise mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers und des eigenen Seins im Augenblick. Insofern ist auch jede Konzentrationsübung im Coaching eine mehr oder weniger bewusste Zeitintervention (Kabat-Zinn, 2011). Helfende Zeitphänomene im Coaching-ProzessFast alle Interventionen im Coaching haben eine zeitliche Dimension. Es gilt, sie bewusst in den Blick zu nehmen. Konzentration schafft Zeitlosigkeit Die erste und wichtigste Intervention des Coachs ist die absolute Konzentration auf den Klienten und auf die Gegenwart. Selbst wenn der Klient über Vergangenes oder Zukünftiges spricht, tut er das hier und heute, genau in dieser Sekunde. Die Konzentration des Coachs kann und sollte sich auf den Klienten übertragen. Das setzt voraus, dass der Coach nicht selbst durch andere Themen abgelenkt und mit inneren oder äußeren Problemen belastet ist. Nichts sollte ihn davon abhalten, von der ersten bis zur letzten Sekunde seine absolute Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Diese Konzentration schafft eine bestimmte Art von Zeitlosigkeit, einen Flow, in dem das Vergehen der gemessenen Zeit keine Rolle mehr spielt, eine Zeitlosigkeit, die nicht mit unendlicher Ausdehnung zu verwechseln ist, sondern eher mit einer Tiefendimension von Zeit und Erleben zu tun hat (Csikszentmihalyi, 1992). Tiefe Veränderungen in kurzer Zeit Dem Klienten wird also unabhängig von seinem konkreten Thema eine Zeit- und Selbsterfahrung ermöglicht, die an sich schon besonders ist und die er in seinem normalen Alltag selten macht. Nicht auf oberflächliche Informationen und Übungen kommt es an, sondern auf die Erfahrung der Tiefe. Achtsamkeit, Konzentration und Tiefe bedingen sich gegenseitig. Immer wieder kann man dann im Coaching beobachten, dass eine bestimmte Intervention bei dem Klienten sehr tief geht, ohne dass die Intervention selbst eine lange zeitliche Ausdehnung hatte. Die Zeit verliert in solchen Momenten etwas von ihrer Allgegenwart und vor allem ihrer Linearität. Zeitlupe ermöglicht Erkenntnis Die nach der Uhr getaktete Zeit wird im Coaching noch auf eine andere Art und Weise außer Kraft gesetzt. Dabei macht sich der Coach eine Technik aus dem Film zunutze und lässt die Zeit einfach langsamer „ablaufen“, quasi in Zeitlupe. Eine entscheidende soziale oder kommunikative Episode aus dem Leben des Klienten, die vielleicht nur ein paar Sekunden gedauert hat, wird in der Sitzung noch einmal ganz ausführlich, vielleicht über eine ganze Stunde in ihren verschiedenen Dimensionen untersucht, um durch das Verlangsamen zu neuen Einsichten zu kommen: z.B. über unbewusste Muster und den eigenen Beitrag zu einem Konflikt. So wird diese Situation, die im Alltag in Sekunden unbewusst und oberflächlich abläuft, in ihrer Vieldeutigkeit und ihrer Tiefendimension erfahrbar. Die Situation kann immer noch einmal durchgespielt und nachgestellt werden. So kann die Zeit in der Sitzung beliebig oft vorwärts und rückwärts laufen. Zeitraffer macht Essenz sichtbar Auch das Gegenteil wird im Coaching praktiziert: dass Episoden aus dem Leben des Klienten wie im Zeitraffer erfragt und erzählt werden. Auch da entstehen neue Erkenntnisse genau dadurch, dass eben der „normale, lineare und gleichmäßige“ Verlauf der Zeit verändert wird. „Das Problem fing eigentlich schon in der Schule an, dann tauchte es im Studium auf und jetzt wieder, als ich befördert wurde …“ Da werden dann 20 Jahre Zeit und Leben – von allem Nebensächlichen entkleidet – in einer Minute zusammengefasst und das Wesentliche, die Essenz, wird sichtbar. Auch damit geht oft ein ungewöhnlicher Erkenntnisgewinn einher. Pausen bieten Raum für Selbsterfahrung Während in unserer Kultur die Vorstellung vorherrscht, dass die Zeit immer „genutzt“ werden sollte und Pausen nur Leerlauf seien, provoziert ein Coach eher Pausen. Denn genau sie können den Wechsel von der Oberfläche zur Tiefendimension der Zeit befördern. Wenn der Klient schweigt und der Coach die Pause aushält, weil er zeitsensibel ist, kann er die Beobachtung machen, dass gerade in diesen Pausen das Neue und Überraschende passiert. In diesem Moment spult der Klient keine vorgedachten und antrainierten Sätze mehr ab, sondern geht in eine innere Suchbewegung. Direkte zeitliche Interventionen im CoachingNeben diesen Interventionen, denen eine zeitliche Dimension implizit innewohnt, können Coaches auch wesentliche Impulse setzen, indem sie direkt zeitliche Perspektiven verändern. Niemand kann die Vergangenheit ändern Als Coach erkennt man häufig sprachliche Konstruktionen, mit denen ein Klient versucht, in der Vergangenheit zu arbeiten: „Hätte ich damals …“, „könnte ich doch noch einmal …“ Hilfreich ist dann der diskrete Hinweis, dass niemand sinnvoll in der Vergangenheit handeln kann. Veränderung ist nur in der Gegenwart möglich, die morgen schon wieder Vergangenheit ist, und in der Zukunft, die dann zur neuen Gegenwart wird. Es gilt also, den Klienten immer wieder sanft aus der Vergangenheit in die Gegenwart und die Zukunft zu holen. Die Vergangenheit wird in der Gegenwart erinnert Es ist essentiell, sicherzustellen, dass ein Klient geistig und emotional in der Gegenwart verankert ist und sich in der Sitzung sicher fühlt. So kann er auf Vergangenes schauen, ohne von einem früheren Erleben überflutet zu werden. Zwar kann die Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden. Sehr wohl aber ist es hilfreich, in der Gegenwart an der Interpretation und den Schlussfolgerungen des Erlebten zu arbeiten. Denn nicht das vergangene Ereignis an sich, sondern seine Interpretation und Einordnung wirken in der Gegenwart und in der Zukunft des Klienten weiter. Alte, fremde oder eigene selbstbestimmte Ziele Coaches arbeiten mit Klienten gerne an Zielen – aber leicht werden dabei zwei wesentliche Zeitdimensionen übersehen. Erstens gilt es nämlich zu fragen, ob die Ziele, die der Klient erreichen möchte, überhaupt seine eigenen sind oder ob er sie in der Vergangenheit ungeprüft übernommen hat – z.B. von den Eltern. Insofern müsste der Coach, bevor er beginnt, mit dem Klienten an der Erfüllung „seiner“ Ziele zu arbeiten, zuerst mit ihm darüber reflektieren, inwieweit es sich um alte, vergangene – und daher fremde – oder wirklich um reflektierte, selbstgesetzte und gegenwärtige Ziele handelt. Qualitative Ziele liegen in der Gegenwart Zweitens wird häufig ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Ziele eines Klienten immer in der Zukunft liegen. Manche liegen aber durchaus in der Vergangenheit – etwa, wenn der Klient etwas „verloren“ hat, das er gerne zurückgewinnen würde: die Unbeschwertheit und Kreativität früherer Jahre vielleicht. Dann gilt es, sich zu erinnern, diese Ziele wieder hervortreten zu lassen und sich mit ihnen in der Gegenwart zu verbinden. Auch andere, vor allem qualitative Ziele, liegen in der Regel nicht in der Zukunft. Ein erfülltes Leben zu führen, ausgeglichen, konzentriert und entspannt bei der Arbeit zu sein, in Balance zwischen Ruhe und Anspannung sowie achtsam im Moment zu bleiben – das trifft entweder jetzt, hier und heute zu oder nie. Die Fixierung auf quantitative Ziele im Coaching, die oft in der Zukunft liegen – mehr verdienen, eine bessere Position erlangen, den Beruf wechseln – kann unter Umständen von den qualitativen Zielen in der Gegenwart wegführen (Klein, 2009). Glaubenssätze kommen aus der Vergangenheit und von außen Wenn Klienten hinderliche Glaubenssätze haben, kann es eine hilfreiche Intervention sein, zu zeigen, dass diese Sätze, die in der Gegenwart anscheinend von innen kommen und als die eigenen wahrgenommen werden, früher einmal von außen kamen. Oft haben Eltern oder andere Bezugspersonen sie dem Kind zugeschrieben, bis das Kind sie übernommen hat. Wobei dieser Akt der Übernahme in der Regel nicht mehr erinnert wird. Die Erkenntnis, dass die Glaubenssätze zeitlich betrachtet gar nicht die eigenen sind, sondern fremde, macht es Klienten oft viel leichter, sie loszulassen und sie durch gegenwärtige, unterstützende zu ersetzen. Wohlfühlgeschwindigkeit statt Gewohnheitsgeschwindigkeit Jeder Mensch hat eine Gewohnheitsgeschwindigkeit, mit der er normalerweise ganz unbewusst unterwegs ist. Diese Gewohnheitsgeschwindigkeit ist aber leider oft überhaupt nicht die eigene Wohlfühlgeschwindigkeit (Klein, 2009). Ein Klient kann z.B. von Kindheit an immer angetrieben worden sein, sich in der Folge selbst hetzen und das als völlig normal ansehen. Ihm wurde eine Grundgeschwindigkeit antrainiert, ohne dass er die eigene Wohlfühlgeschwindigkeit überhaupt kennt. Das ist tragisch und kann Burn-outs Vorschub leisten. Es gilt also, den Klienten mit seiner eigenen Grundgeschwindigkeit ganz bewusst experimentieren zu lassen. Indem er das eigene Tun mal bewusst deutlich beschleunigt, dann wieder abbremst und so nach und nach seine Wohlfühlgeschwindigkeit erspürt und kennenlernt. FazitZeitliche Dimensionen, das Spiel mit der Zeit, die Freiheit der Zeit gegenüber sowie die Zusammenhänge von Zeit und Leben sind für den Coaching-Prozess von zentraler Bedeutung und müssten auch in der Coaching-Literatur viel häufiger wahrgenommen und besprochen werden. Die Zeit taucht bisher fast immer nur indirekt auf, kaum explizit. Dabei sind psychologische und philosophische Zeitvorstellungen und Zeitkonzepte evident wichtig. Sie beherrschen die Hirne und Herzen der meisten Menschen innerhalb einer Kultur auf eine dramatische und zumeist unbewusste Weise. Das Coaching hat hier neben der individuellen Unterstützung des Klienten auch eine kulturkritische und aufklärerische Arbeit zu leisten. Eine ausführliche Langfassung dieses Beitrages lesen Sie im aktuellen Coaching-Magazin 1/2021. Literatur
Borges, J. L. (1981). Gesammelte Werke 5/II, Essays. München: Carl Hanser. Csikszentmihalyi, M. (1992). Flow – Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart: Klett-Cotta. Gronemeyer, M. (1996). Das Leben als letzte Gelegenheit. Darmstadt: Primus. Klein, O. G. (2009). Zeit als Lebenskunst. Berlin: Wagenbach. Kabat-Zinn, J. (2011). Gesund durch Meditation. München: O.W. Barth.
Der Autor
Olaf Georg Klein arbeitet seit 1991 als Einzel-Coach mit seinen Klienten vorrangig an existentiellen Themen. Er hat Theologie, Philosophie und Psychologie studiert und bereits 2007 ein wegweisendes Buch über die Zeit aus philosophischer und psychologischer und interkultureller Perspektive geschrieben: „Zeit als Lebenskunst“. Von ihm stammen auch das Sachbuch „Tagebuchschreiben“ (2018) sowie der Bestseller über Ost-West-Missverständnisse: „Ihr könnt uns einfach nicht verstehen“ (2001). Als Lehr-Coach bietet er seit 1996 eine Coaching-Meisterschüler-Ausbildung an. Olaf Georg Klein ist Mitglied der RAUEN Datenbank. |