Liebe/r Leser/in, wir im Westen nennen den US-Präsidenten, unabhängig davon, wer das Amt gerade innehat, gerne den „Anführer der freien Welt“, weil dies nicht zuletzt Teil der Job-Description des Mannes im Weißen Haus ist. Mit seinem Scoop von Kiew in dieser Woche hat sich Joe Biden diesen Ehrentitel auch ganz persönlich verdient! Wie aus dem Nichts kommend tauchte der Oberbefehlshaber der immer noch stärksten Armee der Welt in der Hauptstadt eines mit Russland im Krieg befindlichen Staates auf – vergleichbar vielleicht nur mit der berühmten Reise von John F. Kennedy 1963 in das von sowjetischen Truppen eingeschlossene Westberlin. Cool mit Sonnenbrille spazierte Top-Gun-Biden mit dem ukrainischen Helden-Präsidenten Wolodymyr Selenskyj offenkundig entspannt durch Kiew, während im Osten des Landes heftige Kämpfe toben. Zugleich war es das ganz persönliche Überlebens- und Freiheitsversprechen des Präsidenten für die Ukraine, die seit dem Überfall der Russen vor einem Jahr „einen Platz in meinem Herzen hat“ (Biden zu Selenskyj). Ein russischer Sieg im Krieg gegen die Ukraine wäre folglich gleichbedeutend mit einem politischen Herzinfarkt dieses US-Präsidenten. Welch ein Unterschied 24 Stunden später in Moskau, als Kriegstreiber-Präsident Wladimir Putin vor Apparatschiks mit verpanzerten Herzen und Hirnen emotionslos eine Durchhalte-Rede an die Nation vortrug. Die Vorwürfe an den Westen, die Verdrehung aller Tatsachen über seinen Krieg – geschenkt. Aufhorchen ließ Putins Rückgriff auf ein historisches Zitat: „Es gibt die Formulierung: Kanonen statt Butter.“ Zur Beruhigung der Bevölkerung fuhr er fort, man habe alles, um Sicherheit und eine gute Entwicklung zu schaffen. „Kanonen statt Butter“ war übrigens das Motto, das Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß 1936 im oberfränkischen Hof bei der Eröffnung einer „Adolf-Hitler-Halle“ für die nationalsozialistische Wirtschaft prägte. Bemerkenswert: Während Joe Biden politisch an Kennedys Freiheitsversprechen für Westberlin anknüpfte, nahm Wladimir Putin (negativen) Bezug auf eine Parole der Nazis. Seltsam auch, weil man ja angeblich gegen Nazis in Kiew kämpft. Welch ein Unterschied aber auch zwischen Kiew auf der einen und Berlin sowie Paris auf der anderen Seite. Während Präsident Biden persönliche Risiken und nicht zuletzt einige Strapazen in Kauf nahm, um der Ukraine zum Jahrestag des Putin-Überfalls dauerhafte Beistandsgarantien zu geben, wehrte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken die Forderung des neuen Verteidigungsministers Boris Pistorius (auch SPD) nach einer Erhöhung des Bundeswehretats um zehn Milliarden Euro ab. Wovon soll eigentlich die Munition z. B. für die Gepard-Panzer bezahlt werden, die Pistorius bestellt und der Ukraine versprochen hat? So demontiert man den eigenen Shootingstar! Und als ob es keine Zeitenwende gäbe, weichte Esken am Sonntag auch das Kanzler-Versprechen von Freitag auf, künftig auf jeden Fall zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Für die SPD-Chefin sollen nämlich Investitionen in Zivil- und Katastrophenschutz sowie die Kosten der Entwicklungshilfe mit eingerechnet werden. Schade nur, dass die Ukraine in ihrem Überlebenskampf davon ebenso wenig etwas hat wie die bedrohten Nato-Staaten im Osten. Befremdlich auch Alice Schwarzer: Die Publizistin mobilisiert zusammen mit Sahra Wagenknecht von der Linken einen Appell gegen Waffenlieferungen – mutmaßlich auch mit Unterschriften von Rechtsradikalen, Neonazis und AfD-Anhängern. Man will so Verhandlungen erzwingen, in Wahrheit aber gäbe man Putin freie Hand für die Auslöschung der Ukraine. Am Samstag soll vor dem Brandenburger Tor demonstriert werden. Es würde mich sehr wundern, wenn dabei nicht auch Anhänger von SPD und Grünen dabei wären, die vom Ohne-michel-Pazifismus nicht lassen wollen. In diesen Kreisen setzt man auch viel Hoffnung auf die angekündigte Friedensinitiative Chinas. Doch wie soll Peking vermitteln, solange es an der Seite des Aggressors steht? Doch nicht nur in Berlin, auch in Paris wird geirrlichtert. Während die Nato in München auf der Sicherheitskonferenz zumindest den Schein vollständiger Einigkeit in der Frage der Unterstützung der Ukraine wahrte, philosophierte der französische Präsident Emmanuel Macron darüber, dass er die Niederlage Russlands in der Ukraine wolle, aber nicht die Vernichtung Russlands. Das hat bislang auch keine Regierung gefordert. Möglich, dass Macron, der keiner Seite den Sieg zutraut, damit indirekt auch seine Weigerung verteidigen wollte, der Ukraine Kampfpanzer zu liefern. Zu den Erkenntnissen in der Woche des Kriegs-Jahrestags gehört jedenfalls, auf wen man sich, wenn es darauf ankommt, verlassen kann. Auf Paris und Berlin eher nicht. Ohne die westliche Führungsmacht USA gäbe es zum Jahrestag höchstwahrscheinlich eine Siegesparade in Kiew, abgenommen von Wladimir Putin. |