Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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16. Juni 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
dieser Tage war ich auf einer Geburtstagsfeier. Das ist an und für sich nichts Außergewöhnliches, weil viele Menschen ihren Geburtstag feiern und dazu andere Menschen einladen. Mir erscheint dieser Brauch dennoch etwas seltsam, weil man ja eigentlich, wenn man Bekannte, Freunde oder gar Verwandte sehen will, dafür nicht unbedingt einen Anlass nötig hätte. Speziell der Geburtstag erinnert Skeptiker, zu denen ich zähle, an jenes, um Heidegger zu paraphrasieren, In-die-Welt-geworfen-Werden, das am Anfang allen individuellen Unglücks steht. Ja, gewiss doch, auch allen Glücks, dessen man mit zunehmendem Alter allerdings, wenn es gut geht, in der melancholischen Art Frank Sinatras gedenkt: It was a very good year. Wohlgemerkt: it was.

Warum also feiert man einen Geburtstag? Solange man ernsthaft jung ist, ist die Antwort leicht: Man möchte endlich älter werden. Acht, weil man da das Piratenschiff geschenkt bekommt; 16, weil man da mehr darf; 18, weil man da alles darf; 22, weil man da jung genug ist, um sich als Heldin zu fühlen, und alt genug, um nicht mehr 18 zu sein.

Irgendwann später setzt die Phase ein, in der es egal ist, wie alt man gerade wird. 29, 35, 42 – alles Jahreszahlen, die eigentlich nur sagen, dass man noch sehr viel vor sich hat und zu wenig hinter einem liegt, als dass man überwiegend daran denken würde, was war. Wenn man in diesem tendenziell wunderbaren Alter eine Partnerin oder einen Partner findet, mit der/dem man auch noch Kinder hat, verliert das In-die-Welt-geworfen-Sein etwas von seinem spinnenhaften Schrecken. Bei allem Stress zeigt ein Kind einem auch, wie schön es sein kann, so alt zu sein, dass man sich mit der Tochter auf jeden Geburtstag (siehe oben) freut. Kinder werden Erwachsene, und glücklicherweise meistens keine solchen, die meinen, man sollte wegen Krieg, Krisen und KI keine Kinder mehr kriegen.

Leider geht das wunderbare Alter vorbei. Man sollte, so mit ungefähr 63, zehn Jahre lang an jedem Geburtstag ein Jahr jünger werden. Dann wäre man mit 73 wieder 53 und könnte eine interessante Life-Life-Balance entwickeln. Außerdem hätte dies zur Folge, dass es keine Überalterung der Gesellschaft gäbe, und die Rente wäre auch sicher.

Doch, auf dem 70. Geburtstag meines Freundes haben wir schon auch über die Gegenwart gesprochen, manchmal sogar über die Zukunft („Und was machst du dann, wenn du jetzt in Rente gehst?“). Meistens aber sprach man über Dinge, die man gemeinsam erlebt hat oder über Zeiten, in denen man noch Geburtstage feierte, ohne recht darauf zu achten, wie alt man wurde („It was a very good year“). Ein sicheres Zeichen dafür, dass man alt ist, liegt in der Gewohnheit, mehr über Vergangenes zu plaudern als über Zukünftiges. Wenn man dabei Probleme hat, bestimmte Geschehnisse zeitlich zuzuordnen („Die haben 2002, nein 2001, oder war es schon 2000, den Laden übernommen“), dann wirkt das auf Menschen, die 2000 gerade zehn waren, aber jetzt ihre wunderbaren Jahre erleben, befremdlich bis leicht geriatrisch.

Es gibt wenig Schlimmeres für Menschen, die sich noch nicht alt fühlen, von eindeutig noch nicht Alten als alt wahrgenommen zu werden – „für Sie die Seniorenkarte, oder?“. Mir, der ich das habituelle Duzen ablehne wie der Imam das Schweinefleisch, widerfuhr neulich Bezeichnendes. Ich kaufte mir an einem Biergartenkiosk ein Radler. Die irgendwie Mittdreißigerin zwei vor mir wurde genauso wie der undefinierbar Halbvierzigjährige eins vor mir von dem Kioskler gefragt: „Was möchtest du?“ Als ich dran war, sagte er: „Wie kann ich IHNEN helfen?“ Ja, ja, es ist wichtig, dass die Alten, wir Alten, was trinken, um nicht zu dehydrieren. Those were the days my friend.

Das Erstaunliche ist, dass man auf so einem Siebzigsten etliche Leute trifft, die man aus jenem anderen Leben kennt, als man noch nicht darauf achtete, wie alt man wurde. Man freut sich einerseits, weil man sich lange nicht gesehen hat. Andererseits sind die dünnen Haare des einen, die Falten im Gesicht des anderen und der vorgewölbte Bauch des Dritten diskrete Menetekel – falls eine Flammenschrift diskret sein kann – für die Erkenntnis: Das bin ja ich. Das bei solchen Anlässen vor zwanzig Jahren geäußerte bewundernde „Die sieht ja toll aus“ ist dem „Für sein Alter sieht der noch ganz okay aus“ gewichen.

Ja, ich weiß schon, Äußerlichkeiten sind unwichtig, und man kann auch mit siebzig noch sehr zufrieden mit sich und seinem Phänotyp sein. Alles eine Frage der Einstellung, zumal da es ja eigentlich egal ist, ob man schlank, dick, haarlos oder leicht angeschlagen ist. Eigentlich. Außerdem bin ich mit 22 im Winter auf Skiern die steilsten Lifttrassen runtergebrochen. Das war ... warten Sie mal ... neunzehnhundertneunund ... ach, egal. War eine schöne Zeit. Ski fahren kann man heute ja sowieso nicht mehr.

Das mit dem Alter ist wirklich nicht so schlimm. Mein Freund, bei dessen Geburtstag ich war, fängt jetzt noch mal ein fast neues Leben in Costa Rica an. Ein anderer Freund hat einen neuen, jungen Hund, der sehr kräftig wirkt. Der Hund ist gut 73 Jahre jünger als mein Freund.

Später am Abend wurde zu Musik aus dem Telefon getanzt. Es waren Hits von Abba. Die tanzenden Menetekler sangen sehr laut mit: Gimme, gimme, gimme a man after midnight. Das war von neunzehnhundertneunund ... ach, egal. Ich mochte Abba schon damals nicht.
Kurt Kister
Redakteur
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