Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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19. Mai 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
wohl den Städten, in denen es Literaturhäuser gibt. Statt Serien zu streamen, kann man da hingehen und Menschen reden hören, die man sonst nur vom Lesen kennt. Man macht sich ja nicht nur seine Vorstellungen davon, wie das Personal eines Romans aussehen könnte, sondern auch, wie die Autorin oder der Autor aussieht, wie sie auftreten, ob sie leise Menschen sind oder eitle, geduckte oder extrovertierte. Ich hätte gerne mal Hermann Lenz lesen gehört, natürlich auch Uwe Johnson oder Ingeborg Bachmann. (Ich erwähne nur Tote, weil ich zu Lebenden ja gehen könnte. Leider fällt einem das erst dann auf, wenn ein bis dahin noch Lebender gestorben ist.) Günter Grass habe ich ein paar mal gehört. Er war so selbstbewusst-schnauzbärtig, wie man ihn als öffentliche Person kannte. Als er 2002 noch mal für die SPD ein wenig Wahlkampf machte, saß er an einem Abend irgendwo in Brandenburg in einem Gemeindezentrum. Er wirkte auf mich wie ein älteres Zitat seiner selbst aus der Zeit des großen Willywählen.

Lesungen sind oft unterhaltsam, manchmal machen sie auch traurig, hin und wieder sind sie lustig. Mein alter Kollege und Freund Axel Hacke ist nachgerade ein Vortragskünstler. Er kann seine Texte so vorlesen und dazu plaudern, dass man als Leser noch mehr von ihnen lesen möchte, und als Zuhörer versteht, warum er immer wieder und immer noch Literaturhaussäle füllt. Würde ich jetzt schreiben, dass ich manches von ihm lieber gesprochen höre, als dass ich es lese, würde er das vielleicht als garstige Kritik verstehen, obwohl es nicht so gemeint ist. Er ist, wie fast alle Schriftsteller und Innen, sehr sensibel. Wenn man Monate oder Jahre an einem Buch arbeitet, und dann geben Leute Urteile darüber ab, die es kaum gelesen haben, kann einen das auch nicht froh stimmen.

Nun ist es aber leider auch das Schicksal der Kritiker und Kritikerinnen als solcher, dass sie urteilen müssen, egal ob über ein Buch, einen Gesetzesentwurf oder die Politik des Kanzlers. Allerdings lebt man heute in einer Ära der Allgegenwart von Kritik jeder Form und jedes Niveaus. Die mehr als nur theoretische Möglichkeit, dass alle, die ein Smartphone haben, ihre Kritik veröffentlichen können und das auch tun, lässt eine Daumen-rauf-Daumen-runter-Gesellschaft entstehen. Im alten Rom riefen die Gladiatoren vor dem Beginn der Spiele angeblich: „Morituri te salutant“, die Todgeweihten grüßen dich. Gemeint war Caesar, so er anwesend war, aber auch das Publikum, das mit gemeinschaftlichem Daumenrunter von den Rängen aus töten konnte. Bei Schriftstellern, Filmemacherinnen, Schauspielerinnen (auch bei Journalisten) ist es heute nicht ganz so schlimm. Allerdings ist die Große Wolke bisweilen auch eine veritable Arena.

Hätte ich ein Buch geschrieben, ginge es mir bei der Vorstellung, ich müsste öffentlich daraus lesen, eher so wie Hermann Hesse in seiner „Nürnberger Reise“. „Für einen Schriftsteller, einen stillen, wenig reisenden Dorfbewohner und Studierzimmermenschen“, schreibt Hesse, „ist der Gedanke, dass er am zwölften des übernächsten Monats unweigerlich in dieser oder jener Stadt vorzulesen habe, unter Umständen grauenhaft“. Hesse war nicht direkt soziophob, litt aber dennoch an sich und der Welt in einer schriftstellerisch brillanten Weise, die viele seiner Erzählungen und Gedichte für Introvertierte und Melancholikerinnen bis heute les- und bewunderbar macht. So wichtig es ihm war, viel gelesen zu werden, so dezidiert scheute er bisweilen die Öffentlichkeit. Der Dichter, liest man in der „Nürnberger Reise“, habe es „oft recht widerlich zu büßen, wenn er durch Eitelkeit, Gewinnsucht oder Reiselust sich zu einer Vorlesung hat verlocken lassen“.

Als hörendem Leser aber ist mir die gesprochene, debattierte Literatur lieb. Dieser Tage war ich im Münchner Literaturhaus bei einer Lesung von Jan Philipp Reemtsma, der unter anderem ein äußerst belesener Literaturwissenschaftler ist. Er hat eine Biografie über Christoph Martin Wieland geschrieben, der zu Goethes Zeiten (und schon etwas früher) in Weimar lebte, wobei man vielleicht auch sagen könnte, Goethe habe zu Wielands Zeiten in Weimar gelebt. Reemtsma führte aus, warum er meint, dass Wieland die moderne deutsche Literatur erfunden habe. Er tat das auf eine Weise, dass ich mir wünschte, ich hätte vor langer Zeit einen Professor wie Reemtsma gehabt, weil ich dann nicht Journalist geworden wäre, sondern etwas Anständiges.

Reemtsma kann schreiben – und er kann lesen. Er trug einen kleinen Ausschnitt aus einem der Werke Wielands so vor, dass ich mir vorgenommen habe, demnächst, also innerhalb der nächsten drei Jahre, „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ entweder zu lesen oder ihn als Hörbuch zu hören (Reemtsma hat den Aristipp vor 16 Jahren mal selbst „eingelesen“.) Irgendwann im Laufe des Abends sagte der Moderator und SZ-Autor Lothar Müller, sich auf Reemtsmas Vortrag beziehend: „Literatur findet nicht nur in Büchern statt.“

Recht hatte Müller. Er ist ohnehin einer der Kollegen, mit denen ich nach dem jüngsten Tag zwischen Himmel und Hölle eine immerwährende Zeitung machen würde, die ehemalige Verleger nach unten austragen müssten. Nein, Literatur findet nicht nur in Büchern statt. Manchmal auch abends auf der Bühne eines Literaturhauses.
Kurt Kister
Redakteur
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