im politischen Diskurs herrscht schon seit geraumer Zeit eine seltsame Tendenz zur Abgrenzung. Und zwar dergestalt, dass es nicht mehr um den Austausch konträrer Argumente geht. Sondern um die Frage: Mit wem darf man überhaupt noch reden, ohne sich selbst den herrschenden Sanktionsmechanismen auszusetzen? Oder: Sollen Wissenschaftler an Universitäten Gehör finden, obwohl sie mit ihren Thesen dem aktuellen Meinungsmainstream widersprechen? Auf diese Weise werden geistige Barrieren aufgestellt, die vielleicht für „geschützte“ Wohlfühl-Blasen sorgen, aber natürlich keinen Erkenntnisgewinn bringen. Im Gegenteil. War das früher einmal anders? Offenbar schon. Mein Kollege Moritz Gathmann beleuchtet eine interessante Episode aus dem Leben des jüdischen Lyrikers und Essayisten Erich Fried, der übrigens an diesem Donnerstag 100 Jahre alt geworden wäre. Denn was kaum jemand weiß: In den 1980er Jahren pflegte der dem Holocaust entkommene Dichter ausgerechnet eine Brieffreundschaft mit dem Neonazi Michael Kühnen. Frieds Motivation gründete in der Überzeugung, auch in einem manischen Holocaust-Leugner wie Kühnen zuallererst einen Menschen zu sehen. Über dessen Ansichten stritt er mit ihm in den Jahren des Gedankenaustauschs ausgiebig, stellte Kühnens Ausführungen zum Nationalsozialismus in Frage und suchte zuweilen in psychoanalytischer Manier nach den Gründen für dessen Hitler-Verehrung. Im Ton sind die Briefe ungeachtet der grundlegenden inhaltlichen Differenzen überraschend herzlich. „Was würde Fried wohl zu den Praktiken der Exklusion sagen, die unsere heutige Debattenkultur immer stärker prägen?“, fragt Gathmann. Und ergänzt: „Die sich politisch auf der richtigen Seite wähnen, ziehen Linien, jenseits derer Kommunikation sinnlos, ja verwerflich erscheinen soll. Wer mit Menschen jenseits dieser Linien spricht oder sich gar mit ihnen auf ein Podium setzt, kontaminiert sich gleichwohl.“ Der heutige 100. Geburtstag Erich Frieds könnte ein Anlass sein, genau dies zu hinterfragen. Ihr Alexander Marguier, Chefredakteur |