Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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14. Mai 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
waren Sie schon einmal in der Frankfurter Paulskirche? Wenn ja, dann waren Sie wahrscheinlich so enttäuscht wie ich. Wenn nein, dann warne ich Sie vorsichtshalber. Es handelt sich um einen historischen Ort, dem man seine Historie ausgetrieben hat. Die Paulskirche ist ein zentraler Ort der deutschen Demokratie, an dem man davon nichts sieht und wenig davon spürt. Jede Ritterburg hat mehr Aura als diese Stätte, die gern als die Wiege der deutschen Demokratie bezeichnet wird. Diesem Ort fehlt die Aura der Authentizität. 

Man sieht nichts mehr von dem Plenarsaal, in dem vor 175 Jahren die Nationalversammlung, das erste deutsche Parlament, getagt hat. Man sieht nichts mehr von dem Interieur, in dem über die Zukunft Deutschlands gerungen und gestritten wurde. Man sieht nichts mehr von der gewaltigen Galerie, auf der zwölfhundert Zuhörerinnen und Zuschauer für Stimmung sorgten. Sie brachten, wie es ein Zeitgenosse formulierte, „Leben in die Bude. Es wurde aus Leibeskräften applaudiert und gezischt.“ Man kann sich das nicht mehr vorstellen, weil die im Zweiten Weltkrieg ausgebrannte Stätte beim Wiederaufbau 1948 völlig umgestaltet wurde. Man kann in einem „Grund-Plan“ von damals studieren, welche Abgeordneten auf welchem der nummerierten Plätze saßen: Der großartige, später von kaiserlichen Militärs in Wien erschossene Redner Robert Blum auf Platz Nummer 5 in der ersten Reihe; der berühmte Germanist und Märchensammler Jacob Grimmauf einem gesonderten Sitz, unmittelbar gegenüber der Rednertribüne und dem Präsidium. Dort machte er am 4. Juli 1848 den bekenntnishaften Vorschlag, den künftigen „Grundrechten des deutschen Volkes“ folgenden ersten, wunderbar kräftig-poetischen Artikel voranzustellen: „Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ 

Es wäre schön, wenn der alte Parlamentsbau rekonstruiert worden wäre – um, wie es die frühere Kulturstaatsministerin Monika Grütters sich gewünscht hatte, Demokratiegeschichte „sinnlich erfahrbar zu machen“. Eine Expertenkommission hat sich vor ein paar Wochen gegen eine solche Rekonstruktion ausgesprochen. Das ist enttäuschend. Demokratie gilt ja oft als eine glanzlose Staatsform, als eine Staatsform ohne Magie. Das wird der Demokratiegeschichte nicht gerecht. Die Geschichte der Volksherrschaft ist verrückt und verzagt, sie ist voller Umwege und Irrwege. Die Paulskirche ist ein Symbol dafür – eigentlich.  Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird sich zum Jahrestag mühen, die Ereignisse bei einer Festveranstaltung in einer großen Rede in der Paulskirche auferstehen zu lassen. Es wird ihm kaum gelingen. Warum nicht? Der Originalort des Parlaments von 1848 ist durch den Nachkriegsumbau von 1948 nicht mehr erkennbar. Der sieht so aus, als solle er die Vorurteile gegen die Demokratie bestätigen: Glanzlos, geschichtslos, ohne Magie. Und das soll nun offenbar auch so bleiben. 

Das Berliner Stadtschloss, das Monument des preußischen Obrigkeitsstaats, ist rekonstruiert und wieder aufgebaut worden. Man kann sich also anschauen, von wo aus der preußische König 1848 auf die demokratischen Bürger hat schießen lassen. Wie der Plenarsaal der Nationalversammlung von 1848 ausgeschaut hat, das zeigen nur alte Bilder. Die Wiederbelebung dieses authentischen Orts der frühen deutschen Demokratie ist nicht versucht worden. Dafür aber hat die Wiederbelebung des authentischen Orts des preußischen Obrigkeitsstaats geklappt. Welche traurige Symbolik! 

Stolz sein auf die Nationalversammlung von 1848 dürfen wir trotzdem. Die Paulskirche ist ein erinnerungspolitisch unerlöster Ort der Demokratie. Hoffentlich kommt die Erlösung noch.
SZPlus Paulskirchen-Parlament
Männer in die Küche, Frauen in die Nationalversammlung
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Und wünschen wir uns, dass die Demokratie so blüht, wie die Natur in diesen Tagen.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Die Gleichschaltung einer Kriegsgesellschaft
Es gibt kleine Verleger, die große Dinge tun. Ganz vorne in dieser Reihe steht Helmut Donat, Verleger in Bremen. Er ist einer, der schon seit Jahrzehnten den Wegen zum Frieden nachgeht und die vergessenen Friedensschriften neu auflegt. Er tut dies unter anderem in seiner Reihe „Geschichte und Frieden“, die mittlerweile mehr als fünfzig Bände umfasst – unter anderem das Kriegstagebuch des Pazifisten Alfred Hermann Fried, des Friedensnobelpreisträgers von 1911; darin beschreibt Fried die Mechanik der Kriegsspirale. Mehr als ein Jahrhundert später und unter dem Eindruck der aktuellen Nachrichten vom Ukraine-Krieg fasst einen dieses Tagebuch ans Herz. Der geläuterte Pazifismus des Tagebuchschreibers beeindruckt. Das Engagement des Verlegers Donat für die Neuauflage der Schriften zum Friedensdenken beeindruckt auch.

Soeben ist Donat dabei, die Schriften des völlig vergessenen Ökonomen und Pazifisten Oskar Stillich herauszugeben. Stillich (1872 – 1945) war wegen seiner sozialkritischen Analysen der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und seiner Gegnerschaft zum wilhelminischen Militarismus ein Außenseiter unter den Wissenschaftlern der Kaiserzeit. Er gehörte zu den frühen sehr hellsichtigen und scharfen Kritikern der völkischen Bewegung und der Hitlerei. Soeben ist ein zweiter Sammelband seiner Schriften im Donat-Verlag erschienen: „Militarisierung des Volkes, Kritik der Reden Hitlers und andere Studien zum Nationalsozialismus“. Der Band zeigt die Gleichschaltung einer Kriegsgesellschaft in allen Schichten und Gliederungen. 

Oskar Stillich: Militarisierung des Volkes. Kritik der Reden Hitlers und andere Studien zum Nationalsozialismus. Das Buch hat 400 Seiten, es ist 2023 erschienen im Donat-Verlag. Es kostet 24,80 Euro.
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Vote 16
Schadet es einem Land, in dem die Alterspyramide Kopf steht, wenn junge Menschen stärker an demokratischen Entscheidungen beteiligt werden? In Bayern wurde ein Volksbegehren gestartet, um das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre zu senken. Fünfzig Verbände und Parteien sind dafür, die CSU ist dagegen. Bayern ist eines von nur noch fünf Bundesländern, in denen ausschließlich Volljährige an den Wahlen teilnehmen dürfen – sowohl bei den Kommunalwahlen als auch bei den Landtagswahlen ist das so; bei den Bundestagswahlen ohnehin, wie in ganz Deutschland. In Österreich wurde das Wahlalter 16 für die nationalen Wahlen schon im Jahr 2007 eingeführt. Und bei den nächsten Europawahlen im Frühjahr 2024 sind auch in Deutschland bundesweit die 16- und 17-Jährigen zur Wahl des EU-Parlaments zugelassen. Man sieht: Die Altersgrenze 18 „bröckelt an allen Enden“, wie der Kollege Thomas Balbierer im Bayernteil der SZ-Wochenend-Ausgabe schreibt. Sein lesenswertes Stück heißt „Die Demokraten von morgen“. Und es lehrt, warum es gut ist, wenn sie heute schon wählen dürfen.
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