Liebe/r Leser/in, springen wir zunächst ins Jahr 2019 zurück. Es war der Abend des 9. Novembers, ein Freund lud ein zu Rotwein, Jahrgang 1989 – auf eine magische Nacht vor 30 Jahren. Zu Gast in der Wohnung des Unternehmers in Berlin-Mitte waren Schauspieler, Musiker, eine prominente TV-Moderatorin, ein Dax-Manager – Leute, die wie ich entweder aus der ehemaligen DDR kamen oder halt einen starken Ostbezug hatten. An diesem Abend, an dem sich der Mauerfall zum 30. Mal jährte, erzählten wir uns unsere Geschichten. Und es wurde so wunderbar herzlich gelacht, es wurden so viele Missverständnisse ausgeräumt, manche unter Tränen. An diesen Abend voller Herzenswärme muss ich denken, wenn wir nun den 30. Jahrestag der deutschen Einheit feiern. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe den Eindruck, dass sich dieser Festtag anders anfühlt als das Jubiläum vor einem Jahr – irgendwie nicht so emotional aufgeladen, vielmehr wie ein technisches Datum. Auch die Bilder waren andere: 1989 tanzten die Menschen auf der Mauer, 1990 sang die Politik auf den Stufen des Reichstags die Nationalhymne. Der 3. Oktober hat mehr verdient als einen Festakt. Er war der glückliche Endpunkt der friedlichen Revolution von 1989 und der Geburtstag einer neuen Heimat. Er ist der Tag, den sich Millionen Deutsche in Ost und West jahrzehntelang ersehnten, vor allem jene Menschen aus den Generationen, die die deutsche Teilung in den 40er und 50er Jahren und den Mauerbau 1961 schmerzhaft selbst erleben mussten. Es ist wichtig, sich zu erinnern, denn ohne Geschichte keine Zukunft. Unsere digitale Zeit rennt so schnell, dass man kaum Zeit hat, sich umzudrehen. Doch wenn man nicht weiß, wo man herkommt, findet man nicht zu sich selbst. Viel ist in den vergangenen Jahren über eine wachsende Spaltung zwischen Ost und West gesprochen worden, über eine Spaltung unserer Gesellschaft generell. Aber viel zu wenig ist in Deutschland miteinander gesprochen worden. Bis heute können wir spüren, dass sich eine zusammengebrochene Diktatur eben nicht so einfach mit einer Demokratie vereinigen lässt. Das ist auch okay und völlig normal; entspannen wir uns also mal. Der 3. Oktober sollte ein Feiertag sein, der alle Deutschen mit Stolz erfüllt auf das Erreichte. Drei Gedanken dazu …
1. Weimar, Wismar, Wernigerode sehen heute anders aus als vor 30 Jahren – diese neue Schönheit meinte Bundeskanzler Helmut Kohl damals mit seinen „blühenden Landschaften“. Das Abenteuer Einheit hat viele Mütter und Väter: Brandt, Genscher, die Kohls, Merkel, Unternehmer aus dem Westen, die investierten, mutige Ostler, die ihre Chancen ergriffen. 2. Vor diesem Hintergrund: Es ist medial chic geworden, das heutige Wirtschaftssystem verantwortlich zu machen für allerlei Ungerechtigkeiten oder Klimakatastrophen. Vergessen wird jedoch bei all der Kapitalismuskritik, dass es in Deutschland, aber auch weltweit Millionen Menschen besser geht als noch vor 30 Jahren. Vergessen wird, gerade jetzt, wo immer lauter über Enteignungen diskutiert wird oder der Staat mit Corona-Hilfen langfristig in den Markt eingreift, wie zerstörerisch staatliche Interventionen sein können und wie lähmend die sozialistische Planwirtschaft war. Vergessen sind die bröckelnden Häuserfassaden zu DDR-Zeiten, keine Energiestandards, Klos auf halber Treppe. Ich bin in der Braunkohleregion südlich von Leipzig aufgewachsen, mit Schulfächern namens PA (Produktive Arbeit) und ESP (Einführung in die sozialistische Produktion), und ich könnte Ihnen stundenlang von Umweltzerstörung und schlechter Luft berichten. Ich schreibe heute aber lieber darüber, wie sehr ich mich freue, dass in Elbe, Saale oder Elster wieder Fische schwimmen. 3. Das Internet wirbelt unsere Gesellschaft auf. Die digitale Transformation verändert unsere Jobs, unsere Art zu leben, unser Denken. Viele Menschen fühlen sich zurückgelassen, abgehängt, so wie unzählige Ostdeutsche vor 30 Jah-ren. Aber wenn wir im Zusammenhang von 30 Jahren deutscher Einheit über Stolz reden, dann können 16 Millionen Ostdeutsche mit Stolz sagen, dass sie bereits bewiesen haben, wie veränderungsfähig sie sind. Sie sind eine Transformation voraus – als 1989 über Nacht alles wegbrach, woran man jahrelang geglaubt hatte. Neues System, neues Geld, Neusprech. Ich werde den 3. Oktober feiern. Ich werde Freunde einladen und über dieses einmalige, beispiellose Glück unserer Geschichte, unseres Lebens sprechen. Ich werde mal nicht aufs Handy schauen und mich ablenken lassen – von Corona, von populistischem Geschrei oder all dem Gerede vom wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands. Ich glaube an die Kraft unseres Landes. Wir haben es doch bewiesen! |