| | | | | 9. Februar 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | als vernünftiger Mensch ist man nicht abergläubisch. Als moderner Mensch wiederum ist man tolerant. Beides kann miteinander kollidieren, zum Beispiel wenn die Cousine daran glaubt, dass die Konstellation bestimmter Planeten zum Zeitpunkt der Geburt wichtige Einflüsse auf den Charakter des oder der Geborenen ausübt. Sie sagt dann: âDer ist ein typischer Fisch.â Man selbst hält dagegen den Lupo di Mare beim Italiener für einen typischen Fisch. Und denkt, dass die Herstellung sogenannter Horoskope mehr oder weniger aufwendiger Mumbojumbo ist. Weil man das der Cousine aber â Toleranz, Baby, Toleranz â so nicht sagen will, sagt man: âAh, ein typischer Fisch.â Nun ist die Erkenntnis, frei nach Gertrude Stein, dass Aberglaube Aberglaube Aberglaube ist, keine blitzartig einsetzende Ãberwältigung, sondern im besten Falle ein Prozess. Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, holte ich gelegentlich Milch mit einer Kanne im Milchgeschäft (ja, liebe Y- und Z-Kinder, das war noch im 20. Jahrhundert und nicht vor dem Ersten Weltkrieg). Ein Teil des Weges war mit Steinplatten gepflastert. Manchmal kamen mir andere Menschen zu Fuà oder auf dem Fahrrad entgegen. Ich nahm mir immer wieder vor, dass ich mindestens fünf Platten im Laufen zu überwinden hatte, bevor mich jemand passierte. Würde ich das nicht schaffen, stellte ich mir vor, bestünde die Gefahr, dass AuÃerirdische landen würden. Mein groÃer Bruder und sogar mein eigentlich nicht lesender Vater lasen damals schon jede Woche Perry-Rhodan-Romane, in denen es immer um AuÃerirdische ging. Ich las die zwar noch nicht, aber die Titelbilder sagten mir alles. Offenbar habe ich immer rechtzeitig die entscheidenden fünf Platten hinter mich gebracht, weil bisher, abgesehen von ein paar Echsenwesen, Alexander Dobrindt und gelegentlich dem AfD-Chrupalla, nicht einmal in Bayern nennenswerte Aufenthalte von AuÃerirdischen zu verzeichnen sind. Wenn man nur fest genug daran glaubt, lassen sich solche Kausalbeziehungen mühelos herstellen. Eine Falsifizierung ist schwierig, denn wie sollte man wissenschaftlich falsifizieren, dass Krebse, astrologisch gemeint, wie Stimmgabeln seien, die âbei der geringsten Provokation in Stimmungâ geraten (stand so in der Gala)? Andererseits stand auch in der Gala, Krebse hätten ein âsehr freundliches und fröhliches Gemütâ. Das kann ich, selbst in diesem Sternzeichen geboren, eindeutig widerlegen. Dieser Tage, und deswegen denke ich über Aberglauben nach, fiel bei mir die Freiheitsstatue aus dem Regal. Vor gut 30 Jahren habe ich als Amerikakorrespondent mal eine Reportage über Manhattan und die Lady Liberty geschrieben. Damals wohnte ich ein paar Tage lang in einem Hotel im World Trade Center, weil man von dort aus einen schönen Blick auf die Freiheitsstatue hatte. Bevor ich wieder zurück nach Washington fuhr, kaufte ich ein klassisches Ich-war-in-New-York-Souvenir, nämlich eine grüne Zehn-Zentimeter-Freiheitsstatue nebst hellem Sockel aus GieÃharz. Das Ding überstand seitdem private und berufliche Fährnisse, Umzüge über den Atlantik an Isar, Rhein und Spree sowie den Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz, den der Krebs, sagt das Horoskop, eher meide (das Horoskop hätte mal mein Verleger sein sollen). Und jetzt, einfach so, fiel die Freiheitsstatue aus dem Regal. Ich saà auf der Couch und hörte ein Geräusch. Niemand hatte am Regal gewackelt, kein Fenster war offen, kein Buch verschoben. Auf dem Boden lag sie, der Arm mit der Fackel fast abgebrochen, der Sockel vom Rest getrennt. Was hat das zu bedeuten? Oder, andersherum gefragt: Hat es etwas zu bedeuten? Wieso ist das Teil aus dem Regal gefallen â Geister, Telekinese, der Einfluss der Sterne? Ist es gar kein GieÃharzbrocken, sondern ein von einem Quäntchen Geist New Yorks beseeltes Elementarteilchen (kein Houellebecq-Plagiat, eigene Idee!)? Oder, noch schlimmer: Ist die Freiheit etwa gesprungen, versuchter Suizid? Nun gäbe es für die Freiheit manche Gründe, nicht nur chinesische, sogar an Selbstmord zu denken. Oder sie könnte zumindest der Vernunft beim Suizid assistieren. Man würde es verstehen, wenn man dabei an Aberglauben-Parteien wie etwa die AfD denkt. Andererseits gehen Freiheit und Vernunft in diesem Land gerade ein unerwartetes Bündnis ein, was Millionen auf die StraÃen bringt, auch wenn der Wassermann und habituelle Agrardemonstrant Hubert Aiwanger annimmt, das seien Linke, die von Linksextremen gesteuert würden. Die Gala schreibt über Wassermänner: âWassermänner versuchen seltsam zu sein.â Vielleicht ist an der Astrologie ja doch was dran. Natürlich ist die am nächsten liegende Erklärung für den Sprung der Lady Liberty die möglicherweise bevorstehende Wiederwahl von Donald Trump. Meiner zwischen Aberglauben und Vernunft manchmal schwankenden Lebenserfahrung allerdings liegt das zu nahe. Zwar wohnt die wirkliche Freiheitsstatue schon länger in New York als Donald Trump. Aber hätte sie richtig etwas gegen den groÃkotzigen Gelbhaarigen â der ist leider auch sehr newyorkisch â, hätte sie längst auf den Trump Tower fallen können. Im zweiten âGhostbustersâ-Film läuft sie schlieÃlich auch durch Manhattan, um das Gute in den New Yorkern zu stärken. Vielleicht hat der Fall des Souvenirs aber auch gar nichts zu bedeuten. Oder nur, dass ich auf die einzelnen Regalbretter weniger Bücher stellen sollte. | |
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| | | | | | | | | | Die überforderte Stadt | | New York hat immer davon gelebt, dass Menschen aus der ganzen Welt hier ankommen. Aber seit die Republikaner busseweise Migranten hier abladen, kippt etwas. Von einem Mann, der das Glück sucht, und einem, der Leute wie ihn loswerden will. | | | |
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