  | | |  | | 17. Mai 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | Spätfrühlingsabende auf dem Balkon sind angenehm. Es ist warm genug, um drauÃen zu sitzen. Man kann eine Leselampe einschalten und wird, anders als noch im 20. Jahrhundert, kaum mehr von Motten und nocturnalen Insekten umschwirrt, weil die, zumindest in der ländlichen Peripherie der Stadt, von den Menschen nahezu ausgerottet worden sind. Von der StraÃe her klingt aus den Cabrios â der Süden Münchens weist die gröÃte Cabriodichte Deutschlands auf â Musik oder jedenfalls Geräusche, welche die Insassen der Autos als Musik empfinden. Wenn ein Mini-Cabrio vorbeifährt, hört man Taylor Swift, die, wie mir neulich meine Lieblingszeitung erklärt hat, tolle Musik macht, was nur alte und halb alte Säcke nicht verstehen. Aus BMWs mit heruntergelassenen Scheiben tönt Deutsch-Rap oder jene Art von gurgelhälsischem Krach, der bei Spotify unter Playlists mit Namen wie me right now angeboten wird (âich trink nur Alk mit 69 Prozent, zur Party, zur Party, zur Party â¦â). Das Martinshorn der zu Raserunfällen auf der A 95 strebenden Rettungswagen unterbricht gelegentlich die Cabriomusik.
Der Mensch, zumal der im Süden Münchens, hat sich die Erde unterworfen, wie es ihm im Buch Genesis 1, Vers 28 aufgetragen worden ist. Er hat das so nachhaltig getan, dass hie und da die Erde dabei ist, unkenntlich vor lauter Unterworfensein â das klingt heideggerisch â zu werden. Wer, zumal in den Pfingstferien oder rund um sogenannte Brückentage, an der Isar, dem Ammersee oder im Chiemgau das Unterworfensein der Erde auskosten möchte, muss im weiteren Sinne mit Blockabfertigung rechnen.
Auch anderswo in Deutschland gibt es Menschen- und Fahrzeugstaus; in Dresden, Berlin oder Ludwigshafen sitzen, stehen und liegen die Erdunterwerfer und starren auf die dort begradigt flieÃenden Flüsse. In meinem nächsten Leben schreibe ich ein dickes Buch darüber, was âesâ mit den Menschen âmachtâ, wenn sie ins Feuer oder auf Flüsse glotzen. Aber wahrscheinlich gibt es in meinem nächsten Leben keine Bücher mehr oder nur noch solche, die von der KI auf einem Implantchip ausgerollt werden. Dann vielleicht lieber kein nächstes Leben.
Versteht man das Individuum, nicht etwa den Menschen als solchen, als einen Besucher, der relativ kurzzeitig, so 70 bis 90 Jahre, auf der Erde weilt, einen Touristen also, dann ist das eines der Probleme, sowohl in den Pfingstferien als auch im Anthropozän: Overtourism, also der übermäÃige Besuch zu vieler Touristen. Vor Kurzem hat mal ein mutmaÃlich vollbärtig geborener, weil seit langer Zeit sehr betroffener Redakteur der Zeit geschrieben, wenn die Leute einfach zu Hause blieben, gäbe es das Problem des Overtourism nicht. Das ist einerseits wahr. Andererseits aber fängt Overtourism zu Hause an.
Der Mensch sollte also nicht mehr als nötig reisen, weil er ja ohnehin, siehe oben, als Tourist zur Welt kommt und als solcher diese wieder verlässt. Dem allerdings steht entgegen, dass der Mensch, zumal wenn er Bücher von Bruce Chatwin oder Stefan Ulrich liest, sich nicht als Tourist verstehen will. Er möchte, wenn er seine Erfüllung nicht gerade auf der Aida oder im Freizeitpark Rust sieht, ein Reisender sein, kein Tourist. Niemand findet Touristen so furchtbar wie der Reisende, der seine periodischen Ortsveränderungen als Unterwegssein, auch im philosophischen Sinne, versteht.
Als jemand, den das Schicksal in eine Gegend verschlagen hat, die von Reisenden, Touristen, Ausflüglern und Unterwegsseiern be- oder heimgesucht wird, macht man die feinen Unterschiede, wer sich gerade auf der StraÃe staut, nicht so sehr. Der Nachbar zum Beispiel baut vor seinem Zaun immer eine Festung aus Mülltonnen, einem Motorrad und manchmal anderem Gerümpel auf, damit ihm die Reisenden nicht die ihm gar nicht gehörenden Parkplätze zuparken. Sollte man, gar an einem sonnigen Wochenende, jener deutschen Obsession, dem Spazierengehen (auch dieses Thema wäre ein anderlebiges Buch wert) frönen wollen, sollte man am besten gegen 6.30 Uhr in der Früh aufbrechen. Da ist es noch relativ ruhig.
Man kann die Leute auf Mallorca oder Teneriffa verstehen, die gegen Touristen demonstrieren, obwohl sie von ihnen leben. In der durchschnittlichen Voralpengemeinde äuÃert sich diese Haltung zum Beispiel darin, dass fast alle, die dort wohnen, nicht wollen, dass Neue hinzukommen, neue Hotels gebaut oder neue Wohngebiete ausgewiesen werden â auch wenn viele der Ablehner gerade selbst erst vor vier Jahren zugezogen sind. Erstaunlicherweise stehen auch in solchen Gemeinden viele Wohnmobile, was darauf hindeutet, dass man ein Reisender sein kann, der Reisende ablehnt. Das Wohnmobil ist eine Art mobiler Balkon, also eine Möglichkeit, beim Wegfahren daheimzubleiben.
Auf dem abendlichen Balkon jedenfalls, mäÃig umbraust von den Erdunterwerfern, saà ich und las. Ich las eine nicht mehr neue Biografie über Jürgen Habermas, geschrieben von Stefan Müller-Doohm, der auch eine gute, allerdings sehr dicke Adorno-Biografie geschrieben hat. In dem Habermas-Buch erzählt Müller-Doohm unter vielem anderen, wie sich CDU- und CSU-Leute in der bleiernen RAF-Zeit 1977 Gedanken darüber gemacht hatten, ob man gegen einzelne âLinksradikaleâ, darunter den einen oder anderen Professor, nicht Anträge auf Grundrechtsverwirkung stellen sollte. Nicht alles, was heute diskutiert wird, ist völlig neu.
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