Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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23. Dezember 2022
Deutscher Alltag
Guten Tag,
der Bussard hat’s gerade nicht leicht. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich eine Wiese. Auf der liegt zur Zeit noch nasser Schnee, der allerdings demnächst verschwunden sein wird. Das nahezu allwissende Telefon weiß, dass es die nächsten Tage wärmer wird. Regnen soll es auch. Noch aber sitzt der Bussard, der in einem Wäldchen am Rande der Wiese wohnt, im schütteren Schnee und sieht traurig aus. Klar, „traurig“ ist eine subjektive Bewertung, ungefähr so, wie wenn man sagt, die griechische EU-Sozialistin mit dem arabischen Schmiergeld sei phänotypisch attraktiv, gar schön.

Schön? Neulich gab’s mal eine nahezu engagiert wirkende Debatte auf diesen Seiten der Zeitung, ob man die Griechin „schön“ nennen dürfe. Ich bin ein großer Freund des Subjektiven und hatte deswegen manche Auseinandersetzungen, zum Beispiel weil ich früher mal eine Gattin des damaligen Bundeskanzlers „großzähnig“ genannt habe und dem Kanzler selbst in einem eher politischen Stück eine Stenzlocke zuschrieb. Schon damals hieß es, das gehe nicht. Ich glaube schon. Was alle sehen, darf man beschreiben, wenn man es kann.

Wenn man auf subjektive Bewertungen, auf persönliche Eindrücke, auf in Worte gefasste Stimmungen, auf, manchmal auch gewagte, Sprachbilder und Assoziationen verzichtet, gibt es keine Literatur mehr, nicht einmal Tagesliteratur. Journalismus vielleicht schon noch, aber das ist dann respektvoller Gebrauchsanweisungsjournalismus für das Nutzwert-Milieu. „Doch wir leben in einer skeptischen und, wenn ich das Wort gebrauchen darf, einer gedankenzerquälten Zeit“, lässt James Joyce den Gabriel Conroy in den „Dubliners“ sagen, „und zuweilen habe ich die Befürchtung, dass dieser neuen Generation ... die Qualitäten der Menschlichkeit, der Gastfreundschaft, des liebenswürdigen Humors ... abgehen werden.“ Joyce schrieb das 1906, und die junge gedankenzerquälte Generation, die er damals meinte, ist längst tot. Das Hadern mit den Weltsichten der Jüngeren ist so alt wie die Menschheit. Nahezu jede Generation sucht neue Regeln, meistens in mehr oder weniger deutlicher Opposition zur vorigen und vorvorigen Generation. Der höchst subjektiv geschriebene, voller Urteile steckende „Ulysses“, den Joyce eine Dekade nach den „Dubliners“ begann, galt vielen damals als enormer Schweinkram und menschen- sowie sittenverachtend. Geblieben ist der „Ulysses“ aber als Weltliteratur.

Der Bussard vor meinem Fenster macht sich keine solchen Gedanken. Er sitzt traurig auf der Wiese, vermutlich weil jenes Kleingetier, von dem er sich gerne ernähren würde, verschwunden ist. Keine Maus läuft herum, die Vögel haben keine Küken, die der Bussard stehlen könnte, und selbst die Würmer, eigentlich unpassend für die Würde des Bussards, liegen halbsteif gefroren, stelle ich mir vor, im Bau des Maulwurfs. Der Bussard, der im Frühling nahezu majestätisch – schon wieder ein subjektives Vorurteil – über der Wiese kreist, ist im Winter ein armes Schwein.

Allerdings ist der Bussard natürlich nur in meiner Vorstellung an diesem Tag ein armes Schwein. Ich halte ihn für traurig, weil ich es selbst gerade bin, jedenfalls ein wenig. Das Wetter ist schlecht, die Tage verlaufen eher eintönig, es kommt wieder einmal ein Weihnachten, das schnell vergangen sein wird. Bald schreibt man ein neues Jahr, 2023. Das Phänomen, dass mit zunehmendem Alter die Zeit schneller zu vergehen scheint, ist rational Blödsinn. In der Wahrnehmung der Wirklichkeit aber gibt es keinen Zweifel daran, dass die Jahre seit ungefähr 2003 jeweils höchstens zehn Monate gedauert haben. Etwa 2020 wurde, natürlich geheim und möglicherweise unter Mitwirkung des 14. Prinzen Reuß sowie Willi Winklers, dann das Neun-Monats-Jahr eingeführt. Mir jedenfalls scheint dieser Januar, in dem die meisten sagten, die Russen würden schon nicht die Ukraine überfallen, keine zwölf Monate her zu sein.

Aber: Nehmen wir doch einmal kurz an, der Bussard sei eigentlich glücklich. Er wird nichts davon wissen, dass er als majestätischer Flieger nicht auf einer nassen Wiese sitzen sollte. Er hat keine Vorstellung davon, was er ist, oder gar, was die anderen, zum Beispiel die gewalttätigen Krähen, ein übler Clan, von ihm halten. Er hat nie Joyce gelesen (was allerdings die meisten Menschen auch nicht getan haben). Der Bussard hat, und hoffentlich widerspricht da der Vogelschutzbund nicht, keine Vorstellung von Zeit, Alter oder der Dummheit von Elon Musk. Der Bussard weiß nicht einmal, dass jetzt gleich Weihnachten ist, obwohl sein Wäldchen keine 300 Meter von der Kirche entfernt ist.

Am Ende gerade dieses Jahres bin ich nicht sicher, zumal nicht an einem grauen Tag, ob es nicht besser wäre, ein Bussard zu sein. Vielleicht nicht immer, aber doch an ein paar Tagen des Neun-Monats-Jahrs. Am besten an jenen Tagen, an denen ich dann majestätisch um das Büro-Hochhaus fliegen oder manche urbane Hubschrauberpiloten durch Scheinangriffe verwirren könnte. Das wäre lustig und stimmungsfördernd. Leider würde ich es als Bussard nicht merken, weil mir ja die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung fehlte. Der Mensch bleibt in sich gefangen. Gerade zu Weihnachten.

Ach ja, auch in diesem Jahr gibt es wieder die fast schon traditionelle Verlosung von Dingen für den Kopf, speziell für den Kopf der Leser und Leserinnen, die den Deutschen Alltag in der Newsletter-Version abonniert haben. Da ist einmal ein sehr langes Buch von Haruki Murakami, eines meiner Lieblingsautoren, der endlich den Nobelpreis bekommen sollte. Allerdings gibt's Murakamis „Die Ermordung des Commendatore“ nicht gedruckt, sondern als Hörbuch in Form von insgesamt 22 CDs. Sie werden sich, wenn Sie (noch) einen CD-Spieler haben, nicht langweilen, sonst würde Ihnen auch der Deutsche Alltag nicht gefallen. Weil 2022 so ein bescheidenes Jahr war, gibt es einen weiteren Bildungsbürger-Preis. Golo Maurer hat ein sehr schönes Sachbuch mit dem Titel „Heimreisen“ geschrieben. Es geht über Goethe, Italien und die Sehnsucht der Deutschen nach Italien und sich selbst. Wollen Sie an der Verlosung teilnehmen, schreiben Sie bitte eine Mail an die Adresse des Deutschen Alltags, die Sie weiter unten finden. Im Betreff muss unbedingt „Verlosung“ stehen, weil das uns die Arbeit erheblich erleichtert. Geben Sie Ihre Adresse an und schreiben Sie außerdem, ob Sie den Murakami oder den Maurer haben wollen. Die treffliche Frau Eder wird sich im Januar um alles kümmern, sodass Sie in ein paar Wochen, wenn Sie denn gezogen werden, den Preis geschickt bekommen. 

Ich wünsche Ihnen ruhige Weihnachtstage und ein besseres 2023.
Kurt Kister
Redakteur
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