Liebe Frau Do, das Wesen vieler Wellen ist, dass man sie lange nicht kommen sieht. Stellen Sie sich vor, Sie stehen im seichten Wasser am Strand und blicken hinaus aufs Meer. Ganz weit hinten hebt sich die Dünung, aber erst wenn sich das Wasser zu brechen beginnt, zeigt sich, wie groß die Welle wirklich wird. Warum ich heute so in die „Stimme des Westens“ einsteige? Zum einen, weil ich den Süden, das Meer und die Sonne vermisse (…was Reisende und Rückkehrer jetzt wissen müssen, finden Sie hier), zum anderen wegen der zweiten Corona-Welle. Sie ist da. Schon länger hatten Virologen vor ihr gewarnt, aber zu sehen war sie nicht. Jetzt nehmen die Infektionszahlen stark zu, besonders auch in NRW. Kerstin Münstermann und Frank Vollmer haben die neue Lage zusammengefasst, und Martin Bewerunge sieht in seinem Leitartikel uns alle in der Pflicht („Zeit, sich ehrlich zu machen“). Was die gestiegenen Infektionszahlen bedeuten, darüber streiten die Experten. Einige wie der Bonner Virologe Hendrik Streeck plädieren dafür, stärker als bisher auf andere Indikatoren zu sehen, etwa die Belegung der Intensivstationen und die Sterblichkeit. So plausibel das ist, spannend finde ich auch, was der Virologe Christian Drosten grundsätzlich zu dieser Frage sagt. Denn für ihn sind die Zahlen und Schwellenwerte, mit denen wir hantieren, eher willkürlich gewählt. „Das ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Politiker muss pragmatisch sagen: ‚Da ist jetzt mal die Grenze‘“, sagte er der „Zeit“. Hinzu komme, dass alle Indikatoren nachlaufend seien, also zum Teil erst Wochen später messbar sind. Dorothee Krings nimmt seine Äußerung zum Anlass, einen erkenntnistheoretischen Blick auf den gebotenen Pragmatismus zu werfen. Klingt kompliziert, hilft aber weiter. Denn Streeck und Drosten zu Gegenspielern eines Virologen-Showdowns aufzubauen, bei dem wir uns auf die eine oder die andere Seite zu schlagen haben, halte ich für falsch – wir brauchen alle Expertise, die wir kriegen können, und wir müssen mit Widersprüchen leben lernen. Es ist schlicht nicht die Zeit der einfachen Antworten. Gestern hatte ich Sie schon auf das Interview mit dem Berliner Soziologen Herfried Münkler hingewiesen. Aus der neuen Unübersichtlichkeit entstehe das Gefühl, „dass die Regierung oder auch der Staat die Lage nicht im Griff habe“. Falls Sie es gestern nicht gelesen haben, ist heute immer noch ein guter Moment, weil Münkler den widersprüchlichen Umgang des Staates mit Corona brillant erklärt. Wegen unseres widersprüchlichen Umgangs mit der Umwelt hat sich weltweit die Jugendbewegung „Fridays for Future“ formiert, inspiriert von Greta Thunberg, die vor gut zwei Jahren anfing, Schule zu schwänzen, um, zunächst ganz allein, vor dem Reichstag in Stockholm für Klimaschutz zu demonstrieren. Eine Schülerin kann in kürzester Zeit eine globale Debatte auslösen und Regierungshandeln verändern – wann hätte es das je zuvor gegeben? Ginge es nach den Wettbüros, müsste die 17-jährige Schwedin heute den Friedensnobelpreis erhalten (und Markus Söder in einem Jahr Bundeskanzler werden). Martin Kessler erklärt anhand „Fridays for Future“ und der radikaleren Schwester „Extinction Rebellion“, wo die Grenzen zivilen Ungehorsams liegen. Der Bürokratie Grenzen zu setzen, ist die erklärte Absicht von Armin Laschet, der ebenfalls das Kanzleramt im Blick hat. Heute will der NRW-Ministerpräsident in Berlin ein „Entfesselungspaket“ in den Bundesrat einbringen. Der Begriff ist kein Zufall, eine Entfesselung hatten CDU und FDP schon in NRW vor drei Jahren in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, und fünf „Entfesselungspakete“ wurden bereits umgesetzt. Aber die Bilanz fällt gemischt aus, wie Antje Höning und Florian Rinke recherchiert haben. Am Anfang der „Stimme des Westens“ waren wir am Meer, am Ende sind wir es nochmal – und das von hier aus ziemlich weit im Westen, nämlich auf Long Island, der Insel vor New York City. Dort ist die neue Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück aufgewachsen. Die US-Lyrikerin, die sich tatsächlich mit Umlaut buchstabiert, wird völlig zu Recht geehrt, schreibt Lothar Schröder in seinem Porträt. Zwar ist keiner ihrer Gedichtbände derzeit auf Deutsch lieferbar, aber hier teile ich die düsteren Schlussverse des Gedichts „Oktober“ mit Ihnen, übersetzt von Ulrike Draesner: „Sag mir, dies ist die Zukunft, ich werde dir nicht glauben. Sag mir, ich lebe, ich werde dir nicht glauben.“ Die Worte passen in diese Corona-Zeiten – sie beschreiben eine zermürbende Unsicherheit, die es zu überwinden gilt. Ich wünsche Ihnen also heute einen starken Glauben an die Zukunft und das Leben beim Start in diesen Oktobertag. Und Glück kann auch nie schaden. Herzlich Moritz Döbler Mail an die Chefredaktion senden P.S.: Wenn Ihnen dieser Newsletter gefällt, empfehlen Sie die "Stimme des Westens" weiter! |