Sehr geehrter Herr Do,
wer kennt sie nicht? Modisch eher schlicht gekleidete Menschen, die wie angewurzelt in Fußgängerzonen stehen und stumm eine Zeitschrift in die Höhe halten, auf deren Titelseite unübersehbar das Wort „Erwachet!“ prangt. Es handelt sich bei der Publikation um sowas wie die Unternehmenspostille der Zeugen Jehovas und wirkt in ihrer Machart eher betulich. In jüngster Zeit wurde die Aufforderung, endlich zu erwachen, von einer deutlich aggressiver agierenden Bewegung gekapert – den selbst ernannten Querdenkern. So bezeichnen viele Impf- und Wissenschaftsskeptiker den übrigen Teil der Bevölkerung gerne mal als „Schlafschafe“.

Doch jetzt gibt es noch eine weitere Gruppe von Bewegten, die sich um die Wachheit unserer Gesellschaft sorgt. Dieses Haltungsphänomen wird als Woke-Bewegung beschrieben. Woke, also „wach“, ist heute derjenige, der bewusst auf soziale Missstände aufmerksam macht und Alltagsdiskriminierungen anprangert, wo immer Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt werden. Also kurz gesagt, jeder vernünftige Mensch. Dennoch: Der Begriff „Woke“ taugt immer mehr zum Reizwort und steht zunehmend für eine moralische Überheblichkeit (zumeist) urban geprägter Gesinnungsfundamentalisten. Verzeihung: -*innen, natürlich.

So frisst die Woke-Bewegung inzwischen auch schon mal ihre eigenen Kinder. Vor wenigen Wochen erst wurde eine junge Musikerin kurzfristig von einer „Fridays for Future“-Veranstaltung ausgeladen. Grund für die Absage war ihre Frisur, sogenannte Dreadlocks. Die Organisatoren wiesen darauf hin, dass es sich hier um einen eklatanten Fall von kultureller Aneignung handele, und legten der Künstlerin nahe, sich doch die Haare zu schneiden. Dann stünde einem Engagement auch nichts mehr im Wege. Cancel Culture at its best.
Es gibt natürlich zahlreiche weitere Beispiele, die den Irrsinn vermeintlicher Aufgeklärtheit und ideologisch verbrämter Wachsamkeit offenbaren. So sollen in einzelnen (Buch-)Verlagen die Texte schwarzer Autoren künftig nicht mehr von Weißen übersetzt werden dürfen, und auch das Schachspiel gilt manchen als rassistisch. Problematisch daran ist in den Augen einiger Woke-Bewegten, dass nach den Spielregeln die weißen Figuren immer den ersten Zug machen dürfen.

Meine Kollegen Nina Habres und Philip Wolff sind beim Thema „Woke“ übrigens sehr unterschiedlicher Meinung. Nachzulesen in der neuen Ausgabe (ab morgen im Handel) – und online bereits jetzt hier:
Welche Themen die neue PLAYBOY-Ausgabe darüber hinaus bemerkenswert machen, verrate ich Ihnen jetzt. Bleiben Sie wach!

Herzlichst,
Ihr
Florian Boitin, Chefredakteur
boitin@playboy.de
 
 

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