Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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9. August 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
ich hatte mal einen Kollegen, der in manchen seiner Artikel gerne Bibelzitate oder Stellen aus einem Märchen als Metaphern zur Erklärung und Bewertung der Welt verwendete. Nicht dass ich dächte, ich könnte diesem Bilderreichtum in meinen späten Jahren irgendwie gleichkommen. Aber dennoch fiel mir dieser Tage das Märchen vom hässlichen Entlein ein. Um das für jüngere, wache, sich eventuell in diesen Text verirrende Leser und Innen gleich klarzustellen: Das Wort „hässlich“ ist ein historisches Zitat. Dem Autor ist bewusst, dass man denken kann, es gäbe keine hässlichen Tiere oder Menschen, sondern nur solche, die von willkürlich gesetzten, phänotypischen Normen abweichen. Auch Frankensteins Monster ist nicht hässlich, sondern nur anders. Glaubt zumindest das Monster.

Der Philologieprofessor Carlos Spoerhase – was für ein interessanter Name – hat neulich ein Büchlein veröffentlicht, in dem er darlegt, warum Kurzfassungen von längeren Texten nicht verwerflich, sondern gut und nützlich sind. In diesem Sinne eine Kurzfassung des Märchens vom hässlichen Entlein, das Hans Christian Andersen 1843 veröffentlichte: Eine Ente bebrütet sieben Eier, sechs kleinere und ein großes. Aus dem großen schlüpft ein graues, irgendwie ungeschlachtes Federtier, aus den sechs anderen lauter niedliche, flauschige, piepsige Entlein. Das Graue wird gemobbt und verzweifelt fast. Es passiert dies und das, bis das Graue dann nach einiger Zeit feststellt, dass es gar kein hässliches Entlein ist, sondern ein großer, schöner Schwan wird. End of story.

Manchmal also weiß man nicht, wer man ist, weil die anderen sagen (oder piepsen), man sei nicht der, für den man sich selbst hält. Oder für den einen die anderen halten. Vor ein paar Tagen gab es den endgültigen wissenschaftlichen Nachweis, dass Kaspar Hauser kein gemobbter, verstoßener Sohn des Großherzogs von Baden war. Seitdem der verschlossene junge Mann 1828 plötzlich in Nürnberg auftauchte, ging das Gerücht, er sei ein Hochadelsspross. Hauser widersprach nicht, auch weil er nur wenig sprach, und die Leute interessierten sich für ihn, allerdings nicht besonders lange. Als er 1833 in Ansbach an einem Messerstich starb, sahen sich einige in der Theorie bestätigt, die man heute Verschwörungserzählung nennen würde, dass Agenten des Großherzogs den Mann ermordet hätten. Möglicherweise allerdings hatte sich der Unglückliche, der schon lange kaum mehr Beachtung gefunden hatte, den Stich selbst beigebracht. Und jetzt also stellten auch noch Wissenschaftler mithilfe der forensischen Genetik fest, dass der Kaspar auf keinen Fall mit dem einst regierenden Haus Baden verwandt war.

Kaspar Hauser war kein Schwan unter Entlein. Ganz anders ist dies bei Kamala Harris. Die Präsidentschaftskandidatin wurde seit Jahren im besten Fall für ein Entlein unter Geiern, Bussarden, Wendehälsen und großen, krächzenden Rabenschwärmen gehalten. Der Schlimmste von ihnen, ein eigentlich längst ausgestorbener Fingerflügler, ein Pterodactylus, lächelte nur verächtlich über sie, wenn er sie denn überhaupt wahrnahm. (Allerdings kann der pterodactylus trumpiensis wegen seiner spezifischen Kieferstellung nur verächtlich lächeln.) Der Pterodactylus, selbst ein Saurier, war sehr damit beschäftigt, dem, den er für seinen eigentlichen Gegner hielt, vorzuwerfen, er sei ein Saurier. Weil dieser sein Sauriertum gerade noch rechtzeitig erkannte, trug er entscheidend dazu bei, dass das vermeintliche Entlein sich als Phönix in die Lüfte erheben konnte. Wie das unter Vögeln und Menschen so ist, behaupten nun ganz viele, sie hätten schon lange erkannt gehabt, dass das Entlein kein Entlein, sondern ein Schwanenphönixeinhorn ist.

Kamala Harris also ist ein Phönix unter Entlein, die sich selbst mindestens für Schwäne hielten. Ob ihr Phönixtum lange genug gegen den Pterodactylus ausreicht, weiß man nicht. Die Saurier sind zwar eigentlich seit Langem ausgestorben, bevölkerten – oder besser: besaurierten – aber wesentlich länger die Erde, als das zum Beispiel der Mensch bisher getan hat – es sei denn, er wurde wirklich am sechsten Tage erschaffen. (Letzteres würde die Geschichte mit den Sauriern, die es eindeutig vor den Menschen gab, so kompliziert machen, dass man eine Kompanie Philologen, drei Bataillone Theologen und mindestens zwei Vertreter exakter Wissenschaften bräuchte, um sie zu klären.)

Das Entlein-Schwan-Problem jedenfalls zieht sich durch Geschichte und Politik. Verstünde man zum Beispiel die sieben bayerischen CSU-Ministerpräsidenten seit Alfons Goppel als Vogelfamilie, wer unter ihnen wäre dann der, der aus einem anderen Ei geschlüpft ist als seine sechs Entlein-Brüder? Möglicherweise Max Streibl, das Amigo-Entlein? Oder FJS, staatlich anerkannter Größterpel? Vielleicht gar Markus Söder, der geboren wurde, wo Kaspar Hauser mehr als ein Jahrhundert zuvor geheimnisschwer aufgetaucht war? Und hat man denn jemals einen Test durchgeführt, ob Söder und Sahra Wagenknecht nicht Spuren von Pterodactylus-DNA in sich tragen?

Das Märchen vom hässlichen Entlein eignet sich hervorragend, um die Welt, zumindest im Sommer, besser zu verstehen. Sollten Sie demnächst am Chiem- oder am Ammersee Enten sehen, seien Sie aufmerksam. Es könnte sein, dass es die Eltern der zukünftigen bayerischen Ministerpräsidentin sind.
Kurt Kister
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