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| | | |  | Guten Tag,
neulich habe ich mich mit unserem Korrespondenten in Istanbul unterhalten. Wir haben nicht geredet, sondern Mails ausgetauscht, was heute ja durchaus als Unterhaltung gilt. Reden ist für eine Unterhaltung im 21. Jahrhundert nicht mehr nötig, so wie auch Mails Briefe ersetzt haben. Irgendein Mensch, es könnte sogar ich selbst gewesen sein, hat mal gesagt, dass noch nie in der Geschichte von so vielen Menschen so viel geschrieben und gelesen worden ist wie heute, und dennoch ist die Kultur des Lesens, des Schreibens und des Gesprächs dadurch keineswegs gefördert worden. Ja, das ist eine altmodische Ansicht, aber ich glaube dennoch, dass das Tippen von Nachrichten auf dem Telefon mit dem Schreiben eines Briefes von Hand ungefähr so viel zu tun hat wie das Konsumieren eines Hamburgers mit einem mehrgängigen Abendmenü. Beides ist schreiben, beides ist essen.
So viel zum Kulturpessimismus. Der Korrespondent also âerzählteâ mir, er wohne mit Blick auf den Bosporus und beobachte dort ab und an den Schiffsverkehr. Er habe sich eine App auf seinem Telefon installiert, die Schiffe erkennen könne. Nun gehört die Schiffserkennung keineswegs zu den Aufgaben des Auslandskorrespondenten. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass das ein interessanter Zeitvertreib ist. (Ein weiteres sehr schönes deutsches Wort: Zeitvertreib. Man stellt sich die ganz und gar immaterielle Zeit als ein Ding vor, das man mithilfe von Tätigkeiten wenn nicht verjagen, so doch beschleunigen oder zumindest âausfüllenâ kann. Wenn ich mal erwachsen werden sollte, studiere ich doch noch Philosophie.)
Vor hundert oder ein paar Jahren mehr, als es noch keine Satelliten und kein Internet gab, war die Beobachtung des Schiffsverkehrs für manche ein Zeitvertreib, für andere aber eine gelegentlich gefährliche Arbeit. Die Engländer zum Beispiel hatten groÃes Interesse daran, welche Schiffe durch den Ãrmelkanal fuhren und ob Kriegsschiffe darunter waren. Ãhnlich interessant war damals auch der Schiffsverkehr im Bosporus, weil russische Kreuzer nur so ins Mittelmeer gelangten (das ist heute auch noch so, aber wer genau wissen will, was sich durch so eine Meerenge bewegt, der braucht keine als Touristen getarnte Beobachter mit Fernglas und einem Marineerkennungskatalog mehr). Der Schotte John Buchan übrigens, wie Ian Fleming selbst mal Geheimdienstler, hat seinerzeit über solche Sachen sehr unterhaltsame Spionageromane geschrieben; der bekannteste von ihnen, âDie neununddreiÃig Stufenâ aus dem Jahr 1915, wurde 1935 von Alfred Hitchcock verfilmt.
Jedenfalls ist es sehr bemerkenswert, dass man sich heute auf einen Istanbuler Balkon setzen kann und einem dann das Telefon sagt, was man gerade für einen Frachter sieht. Ich hatte vor einiger Zeit ein ähnliches Aha-Erlebnis, nur nicht am Bosporus, sondern in Südtirol. Als Kind und Jugendlicher bin ich mit meinem Vater gelegentlich in den Bergen gewesen, während mein damals langhaariger Bruder daheimblieb und, das stellte ich mir jedenfalls vor, irgendwelche aufregenden, langhaarigen Dinge machte. Mein Vater gehört zu jenen Menschen, die alle Berge, zumindest in den Alpen, mit Vornamen kennen. Das ist bis heute so. Wenn er, mittlerweile 95 Jahre alt, mit seiner eine Dekade jüngeren Frau über gemeinsame Bergerlebnisse redet â die reden wirklich und schreiben sich keine Mails â, dann kriegen sie sich gelegentlich darüber in die Haare, ob der GroÃe Gurgler vor oder hinter dem Schratznkopf liegt und wann sie unter welchen Umständen den einen oder den anderen bestiegen haben (ich habe nur die Namen der Berge erfunden, alles andere ist nahezu authentisch).
Ich konnte mir die Namen der Berge nie merken. Wenn ich geografisch mal einen guten Tag habe, erkenne ich vom Hochhaus aus die Zugspitze und die Alpspitze. Alles andere sind âdie Bergeâ. Dabei war ich, zumindest in jüngeren Jahren, durchaus bergfreundlich, was ich bis in den Himalaja und sogar am Kilimandscharo auslebte. Heute ist das anders. Heute habe ich eine Bergerkennungs-App.
So ist das moderne Leben: Ich stand im letzten Herbst an der Churburg in Südtirol und hatte plötzlich das Bedürfnis zu wissen, wie die Berge, die ich sah, heiÃen. Wenn man etwas wissen will, schreibt man der Frau Google oder dem Herrn Appstore. Die teilten mir mit, dass es Tourenapps und Bergwetterapps und Gipfelapps und ungefähr 317 weitere Bergapps gibt. Ich dachte ganz kurz daran, was wohl der Trenker, Luis dazu sagen würde, den ich seinerzeit vor langer Zeit dreimal bei Vorträgen erlebt habe (âBuama, Madln, Damen und Herrn, i gfrei mi â¦â). Wahrscheinlich sind ohnehin aus seinem Grab in St. Ulrich im Grödner Tal immer wieder laute Drehgeräusche zu hören, weil der Luis mit diesem Jahrhundert bestimmt nicht mehr zurechtkommt.
Ich lud mir also noch im Angesicht der Berge um die Churburg eine Schiffserkennungs-, nein, eine Bergerkennungsapp runter. Die sagte mir, dass dies der Piz Sesvenna und das der Piz Rasaà sei. Ich werde zwar nie auf einem der beiden Pize stehen, aber immerhin weià ich seitdem, wie die Berge heiÃen, auf denen ich nie stehen werde.
Ist dies nun eine Agglomeration unnützen Wissens? Oder gibt es gar kein unnützes Wissen, weil Wissen an sich nützlich ist? Wilhelm von Humboldt schrieb, dass âBildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet (sein sollen) als möglichâ. Recht hat er, der alte Humboldt. Meiner Lebenserfahrung nach nennen eher jene, die nicht so viel wissen, das Wissen anderer manchmal âunnützâ. Schon richtig, es nützt Ihnen wahrscheinlich nichts, wenn Sie John Buchan lesen oder den Piz Sowieso benennen können. Aber zum Menschsein gehört auch entscheidend, dass man manchmal Dinge um ihrer selbst willen macht und nicht weil es âetwas bringtâ. Manchmal kann das Unnütze das Schönste sein.
Vielleicht haben Sie es ja bemerkt: Ich habe keine Lust mehr, dauernd über Corona zu schreiben. Muss man auch nicht. Gehen Sie lieber raus und laden Sie sich vorher zum Beispiel eine Vogelerkennungsapp runter. Es müssen ja nicht immer Schiffe oder Berge sein.
Kurt Kister Chefredakteur
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