Wie Eribon, der sich selbst als „Klassenflüchtling“ bezeichnet, dem Arbeitermilieu entwächst, in dem er großgeworden ist, macht in „Eine Arbeiterin“, vierzehn Jahre nach „Rückkehr nach Reims“, nur einen Nebenaspekt aus, und dass sich dieses Entwachsen auch an der Lektüre des Sohnes noch im Elternhaus zeigt und an der Ratlosigkeit der Eltern dieser Lektüre gegenüber, ist allenfalls eine feine Spur. Und doch zeigt sie in einer Art Doppelbelichtung, wozu Bücher fähig sind: Sie führen Menschen über Grenzen, sie befreien uns – und können uns zugleich einander fremd werden lassen.
Fridtjof Küchemann
Redakteur im Feuilleton.
In den Buchmessetagen im Herbst hatte Didier Eribon zusammen mit seiner Übersetzerin Sonja Finck in der Villa Unseld, dem einstigen Wohnhaus des Suhrkamp-Verlegers in der Frankfurter Klettenbergstraße, aus „Eine Arbeiterin“ vorgelesen, fünf Monate, bevor das Buch bei uns veröffentlicht wurde. Seine leise, helle Art, sein offensichtliches Vermögen, sich selbst in seinen Gedanken mit in den Blick, ohne sich dabei zu wichtig zu nehmen, haben mich dazu gebracht, das Buch sofort lesen zu wollen. Und es macht aus, dass man beim Lesen unwillkürlich auch sich selbst, das eigene Leben, die eigene Haltung in den Blick nimmt. Bei jedem Lesen neu.
Kaum zwanzig Minuten zu Fuß stadteinwärts hat Joachim Unseld dieser Tage, in der Buchhandlung Weltenleser im Oeder Weg, über Franz Kafka und dessen „Brief an den Vater“ gesprochen. 1959, als Familie Unseld in die Klettenbergstraße gezogen ist, wurde er sechs Jahre alt. 1986, als der Verlag Hoffmann und Campe eine wunderschöne Faksimile-Edition des berühmten Kafka-Briefs mit einem von Joachim Unseld verfassten, knapp fünfzig Seiten langen Nachwort veröffentlichte, war er geschäftsführender Gesellschafter bei Suhrkamp und designierter Nachfolger seines Vaters Siegfried als Verleger. Vier Jahre später kam es zum Bruch. Auch Kafkas „Brief an den Vater“ ist so ein Buch, das wir in verschiedenen Lesealtern und Lebensphasen unterschiedlich wahrnehmen. Und nie hinter uns haben.
Wir wünschen anregende Lektüre und grüßen freundlich!
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Winzlinge und andere interessante Lebewesen: Janina Wellmann erörtert die wichtigsten Facetten biologischer Bewegung und ihrer Erforschung. Von Manuela Lenzen
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Gehen Sie auf Spurensuche nach Erdkröte, Wildtulpen, Nutria, Graureiher oder Lungen-Enzian – und sehen Sie selbst, wie artenreich das Rhein-Main-Gebiet ist. Mit GPS-Daten!