was seine Lehrerin damals ihren Schülern gesagt hatte, erinnert der Schriftsteller Saša Stanišić mehr als dreißig Jahre später so: „Feiert nicht, was ihr seid, feiert, dass ihr seid. Dass es euch gibt. Euch, die ihr lieben könnt. Alles andere, alles, was nicht lieben kann, darf niemals wichtig sein.“
Genossin Rozalija Mimić war, glauben wir Saša Stanišić, die strengste Lehrerin des Universums. Sie unterrichtete Mathematik in der Schule in Višegrad im östlichen Bosnien. Vier Jahre lang hatte die Klasse von Saša Stanišić bei ihr Unterricht, bevor sie, die alle fürchteten, an einem Tag im März 1992 nicht über die Berechnung des Volumens von Zylindern sprach, sondern die Stunde mit einer Frage eröffnete: „Wovor habt ihr Angst?“
Fridtjof Küchemann
Redakteur im Feuilleton.
In seiner Dankesrede zum Nelly-Sachs-Preis, veröffentlicht in der F.A.Z., spannt Saša Stanišić den Bogen vom Grauen, vor dem die Namensgeberin des Preises im Mai 1940 nach Schweden floh, zu den Schrecken der Jugoslawienkriege, aus dem sich die Familie des damals Vierzehnjährigen nach Deutschland rettete, und von dort aus weiter zum Krieg in der Ukraine, zum terroristischen Angriff der Hamas und seinen Folgen, zur wachsenden Ungewissheit so vieler Flüchtender und Geflüchteter.
Etwa dreißig Jahre her ist auch der Moment, von dem Zeruya Shalev im Gespräch mit Julia Encke in der Sonntagszeitung erzählt: Wie sie beim Warten auf einen Schriftsteller, mit dem sie als Lektorin zum Gespräch über ein Manuskript verabredet war, Zeilen zu notieren begann, Zeilen die zu ihrer Überraschung kein Gedicht ergaben, sondern sich zu einer Erzählung auswuchsen, zu einem Roman, ihrem Debüt, der erst jetzt unter dem Titel „Nicht ich“ auch in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Auch bei Zeruya Shalev spannt sich ein Bogen von den Schrecken der Vergangenheit, von Ereignissen, die Spuren in den Albträumen hinterlassen haben, zu denen der Gegenwart. Auch ihr Blick auf die Grausamkeit ist unverstellt, und auch sie vermag, wie Saša Stanišić, in diesen Tagen Hoffnung zu schöpfen. Die beiden Beiträge nacheinander zu lesen, sie miteinander in Korrespondenz treten zu lassen, führt uns klar vor Augen, wie es in den letzten Dezembertagen 2023 um unsere Welt bestellt ist, und doch liegt Wärme in ihnen, Trost und ein Auftrag: zu feiern, dass wir lieben können. Das ist Rüstzeug für ein neues Jahr.
Was ich meiner Mathelehrerin verdanke: Vom kleinsten banalutopischen gemeinsamen Nenner einer Zukunft, die wir miteinander gestalten. Ein Gastbeitrag. Von Saša Stanišić
„Nicht ich“ heißt der erste Roman, den die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev geschrieben hat – und der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint. In ihm wird ein Kind entführt und über die Grenze gebracht. Auch von einem Tunnel ist die Rede. Ein Gespräch über bestürzende Aktualität und die Frage, wohin uns das alles führt. Von Julia Encke
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