In der Volkscharaktersatire wird der Deutsche als Träumer mit schlichtem Gemüt geführt. Selbst für plakative Zwecke zu schlicht gedacht war zwar diese Syllogismussimulation: „Frieden sichern – SPD wählen“. Mit den träumerischen Phantasien eines Volkes, das Frieden mit der Abwesenheit von Krieg im eigenen Sichtfeld gleichsetzt, kalkuliert aber auch die Konkurrenz. Im ZDF hat Friedrich Merz nun eine rhetorische Wende vollführt, in einem tollkühnen Manöver der Zuspitzfindigkeit: Der Bundesregierung von Anfang an vorgeworfen zu haben, zu wenig Waffen an die Ukraine zu liefern, heiße nicht, heute zu fordern, mehr Waffen zu liefern.
„Wir müssen sehen, dass wir Möglichkeiten eröffnen, wie dieser Konflikt irgendwann mal beendet wird.“ Mit diesem Satz möchte Merz demonstrieren, dass er „den Osten gut genug verstanden hat“. Der Satz ist aber auch den Kindern der alten westdeutschen Bundesrepublik ohne Weiteres verständlich, denn er frischt eine Maxime politischer Klugheit auf, mit der vor 1989 die Politik der Entspannung propagiert wurde, der Überwindung des Blockgegensatzes auf der Ebene der Einstellungen und Maximen.
Patrick Bahners
Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.
Die ehrenvollste Auszeichnung der Bundesrepublik ist der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der seit 1951 in der Frankfurter Paulskirche verliehen wird, in der Regel in Anwesenheit, bisweilen sogar mit Laudatio des Bundespräsidenten. Er ist ein inoffizieller Staatspreis; der Staat ist nicht der Stifter. Das zufällig zustande gekommene Arrangement wurde mit der Zeit sinnfällig: Im Bekenntnis zum Friedenswillen geht Deutschland auf Abstand nicht nur zur Machtstaatlichkeit, sondern tendenziell zur Staatlichkeit überhaupt. Klaus Harpprecht nahm 1969 am „blechernen Pathos“ des Friedenspreises Anstoß und bezeichnete damit das Unpolitische einer Institution der Ersatzpolitik.
Durch eine polnische Perspektive mitbestimmt
Die Wahl der Jury für das Jahr 2024 bringt jetzt ein Pathos zum Ausdruck, das gerade vor dem Hintergrund der Geschichte des Preises staunen lässt. Sollte das Werk Anne Applebaums die Assoziation des Blechernen wecken, könnte es nur der Hochglanz der Bläsergruppe eines amerikanischen Spitzenorchesters sein, das den Drill der Schule von George Szell durchgemacht hat. Den deutschen Spitzenpolitikern werden beim rituellen Termin in der Paulskirche die Ohren klingeln: Mit der 1964 in Washington geborenen festen Mitarbeiterin der Monatszeitschrift „The Atlantic“ empfängt den Friedenspreis wohl zum ersten Mal ein Vertreter der klassischen Lehre, dass, wer den Frieden wolle, sich auf den Krieg vorbereiten müsse. Zu dieser Vorbereitung gehört, dass man den Krieg nicht verleugnet, wenn er begonnen hat, und dass man ihn nicht durch Umdefinieren aus der Welt schafft.
Zwar wurde der Friedenspreis 1982, als in Bonn Helmut Kohl im Zuge der Nachrüstungskrise Helmut Schmidt ablöste, George Kennan verliehen, dem Architekten der Strategie der „Eindämmung“ im Kalten Krieg. Aber Kennan hatte sich nach seinem Ausscheiden aus dem State Department in den schärfsten Kritiker der Abschreckung verwandelt. Wie Günther Gillessen 1982 in der F.A.Z. notierte, äußerte sich Kennan sehr häufig zu Polen und vertrat „eine Politik der Beschwichtigung“ im Namen der Rücksicht auf russische Sicherheitsbedürfnisse. Anne Applebaums Sicht auf die politische Welt ist durch eine polnische Perspektive mitbestimmt.
Gegen die Entkopplung
Am 10. November 1989 fuhr sie mit dem Auto von Warschau nach Berlin, um als Journalistin Augenzeugin zu sein, gemeinsam mit Radosław Sikorski, den sie 1992 heiratete und der seit dem 13. Dezember 2023 wieder Außenminister Polens ist. 1989 nahm Václav Havel den Friedenspreis entgegen, als der Mut der osteuropäischen Dissidenten doch noch von der Geschichte belohnt wurde. In diesem Jahr erhält eine Mitgestalterin geschehender Zeitgeschichte den Preis, deren Wirken 1989 begann. Wie ihr Mann in England ausgebildet, gehört sie zu einem Netzwerk von liberalen Universalisten, die sozial gesehen Teil einer transatlantischen Oberschicht sind und den Rückfall Europas in den Krieg nicht der Arroganz des Westens anlasten.
„Es macht keinen Sinn, jetzt zweieinhalb Jahre zurückzuschauen“, sagte Merz im ZDF. „Ich beantworte ungern Was-wäre-wenn-Fragen. Welche Entscheidung wir in der Zukunft treffen, hängt von den Umständen ab, die von uns heute keiner kennt.“ Gegen diese habituelle Entkopplung der politischen Entscheidungen von der historischen Erfahrung richtet sich alles, was Anne Applebaum schreibt, von den Büchern über die Errichtung der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa, den Gulag und die autoritäre Internationale der Hofintellektuellen Trumps und Kaczyńskis bis zu ihren Rezensionen über Putins Kleptokratie. Wer den Frieden will, darf sich nicht dumm stellen.
Mit Anne Applebaum scheint die Jury mit der Reihe von Friedenspreisträgern zu brechen, deren Werk politisch höchste Dringlichkeit hat. Aber die amerikanische Historikerin ist gerade in dieser Reihe eine konsequente Wahl. Von Andreas Platthaus
Die Journalistin Anne Applebaum analysiert, warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist, welche Rolle die Eliten dabei spielen und wie wir uns gegen rechte Netzwerke zur Wehr setzen können. Von Julia Encke
Die Menschheit hat Schulden auf ihre Utopien gemacht. Der Sozialismus ist eine davon. Eine Betrachtung aus Anlass von Anne Applebaums Buch „Roter Hunger“. Von Jürgen Kaube
Die Etablierung und Ausformung des Stalinismus im europäischen Vorfeld in den Jahren 1944 bis 1956 untersucht die amerikanische Journalistin Anne Applebaum. Von Christoph Klessmann
Ein Sportjahr mit Highlights – lassen Sie sich davon inspirieren!Tippen Sie den Europameister 2024 & gewinnen Sie eine FitnessFirst-Jahresmitgliedschaft.
Starten Sie in Ihre neue Wochenendtradition und genießen Sie den Sommer mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: 6 Wochen zum Sommerpreis von 6 Euro!