| | | | | 19. April 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | dieser Tage war in der Newsweek eine Geschichte über den Papst mit der schönen Rubrik âWoke Popeâ zu lesen. Die Newsweek ist zwar nicht mehr das, was sie mal war, aber wer unter uns ist schon noch der, der er mal war, was unabhängig von jedem möglichen Geschlecht gilt? Interessant an der US-Zeitschrift jedenfalls ist die Tatsache, dass sie eine Art Lazarus unter den Magazinen ist: 2012 wurde ihre gedruckte Ausgabe eingestellt, Newsweek erschien â wie sich das viele Geschäftsführer, manche Chefredakteurinnen und andere sich für Baumpfleger haltende Astabsäger auch hierzulande wollüstig vorstellen â nur noch digital. Nachdem Newsweek ein paar Mal die Besitzer gewechselt hatte, konnte man sie 2014 wieder gedruckt am Kiosk kaufen. Jetzt frettet sie sich so dahin, ist aber dennoch ein Symbol dafür, dass Pinguine manchmal fliegen und gedruckte Zeitschriften hin und wieder auferstehen können. Was ich an der Woke-Pope-Geschichte so interessant fand, war die wieder einmal präsentierte, eigentlich alte Erkenntnis, dass Wahrheit eine Frage der Wahrnehmung sein kann. Ohne die Geschichte im Einzelnen referieren zu wollen, wird Franziskus überwiegend als ein Papst geschildert, der den konservativen bis reaktionären Teilen des latein- und des US-amerikanischen Klerus mächtig auf die Nerven geht, weil er angeblich die Kirche zu sehr liberalen Strömungen in der Gesellschaft öffnen will. Auf dem Cover wird das durch ein Porträt des Papstes vor regenbogenfarbigem Hintergrund symbolisiert. Das ist nicht unbedingt originell, weil der Regenbogen allmählich so ein beliebiges PR-Klischee wird wie die Bezeichnung âklimaneutralâ. Doch, es kommt in der Geschichte auch vor, dass Franziskus mit Teilen des deutschen Katholizismus aus ganz und gar unwoken Gründen über Kreuz liegt. Dennoch ist es eine Frage des Blickwinkels, des Standpunktes, eben der eigenen Wahrnehmung, ob man im Papst den ungestümen Modernisierer oder den auf Machterhalt abzielenden Blockierer sieht. Und was für den Papst gilt, gilt auch für die Wahrnehmung von Israels Gaza-Krieg, von Scholzâ Ukrainepolitik oder der kriminalpolitischen Sinnfälligkeit und gesellschaftlichen Relevanz der Legalisierung des Cannabis-Gebrauchs. Wenig ist nur schwarz oder nur weiÃ, kaum etwas lässt sich durch âpro und contraâ hinreichend umreiÃen, gar erklären. Allerdings hat diese manichäische Betrachtung der Welt stark zugenommen, die Einteilung in Gut oder Böse, in richtig oder falsch. Dies entspricht grundsätzlich dem binären Eins-Null-Denken, das, soweit Denken ein Pfeiler sein kann, ein Grundpfeiler der digitalen Welt ist. Ich habe mir angewöhnt, skeptisch gegenüber jenen zu sein, die zu genau wissen, was stimmt. Das mag auch daran liegen, dass ich als Kommentator früher selbst solche Anwandlungen hatte. Doch, natürlich gibt es viele Dinge, die man zwar unterschiedlich beurteilen kann, die aber dennoch eine eigentlich unbestreitbare Grundlage haben. Der Klimawandel zum Beispiel findet statt, und er hat, anders als frühere groÃe Klimaveränderungen, Ursachen, die auf den Menschen zurückzuführen sind. Auch das kann man bestreiten, aber dann könnte man auch abstreiten, dass es Schwerkraft gibt und dass Ebbe und Flut etwas mit dem Mond zu tun haben. In diese Abteilung fällt für mich übrigens auch die Behauptung, Corona sei nur eine etwas stärkere Form der Grippe gewesen. Ãber die MaÃnahmen gegen die Seuche kann man trefflich streiten. Manches davon war falsch, anderes überflüssig â allerdings immer vor dem Hintergrund, dass man im März 2020 viel weniger wusste als im März 2022. Wer aber meint, dass es keine gefährliche Seuche war, könnte möglicherweise auch denken, dass Bill Gates daran schuld ist, dass Steine auf der Erde nach unten fallen. Natürlich hat auch âdie Wissenschaftâ nicht immer recht, zum Beispiel dann nicht, wenn Wissenschaftler aus objektiven, nachvollziehbaren Erkenntnissen Schlüsse für die Zukunft ziehen und in diesem Prozess subjektive Kriterien mit objektiven Ergebnissen vermischen. Ich erinnere mich gut daran, wie noch vor einigen Jahrzehnten seriöse Physiker, Ingenieure und Volkswirte die Kernkraft als Lösung der Energieprobleme dargestellt haben. Ãbrigens ist nicht jede Wissenschaft auch wirklich Wissenschaft, man denke nur an die Karriere des âwissenschaftlichen Sozialismusâ. Was also ist der Papst? Nein, keine Sorge, ich werde diese Frage nicht manichäisch betrachten oder gar lösen. Ich weià es nicht, auch wenn ich glaube â glaube! â, dass die katholische Kirche in Europa einem Prozess der Erosion ausgesetzt ist, der ihr in den nächsten Jahrzehnten ihre gesellschaftsprägende Kraft nehmen wird. Der Grad der Wokeness des jeweiligen Papstes wird daran wenig ändern. Ach ja, und dann erinnere ich mich noch an die Zeit, als ich US-Korrespondent der SZ war. Sobald der Bundeskanzler (damals gab es nur Helmut Kohl) oder ein halbwegs bekannter Minister (Ministerinnen waren selten und meist nicht halbwegs bekannt) nach Washington reisten, wollte die Zentrale von mir wissen, was âmanâ in Washington dazu sagt oder gar was âdieâ Amerikaner davon halten. Gelegentlich versuchte ich mich mit dem Satz âDas ist denen wurschtâ der Wahrheit anzunähern â aber eben aus der Perspektive der Pennsylvania Avenue und nicht aus der der Sendlinger StraÃe. Ein Perspektivwechsel hin und wieder im Leben tut gut. | |
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| | | | | | | | | | Was der Papst denkt | | Franziskus veröffentlicht seine Autobiografie. Sie erklärt, warum dieser Papst anders ist als seine Vorgänger und immer wieder aneckt - auÃerhalb und innerhalb der katholischen Kirche. | | | |
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