Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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7. Juni 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
man muss Christy Moore nicht kennen, aber wenn man ihn kennt, mag man ihn. Es sei denn, man mag keine irischen Songs und kann Irland als solchem auch nicht viel abgewinnen. Aber wenn beides zutrifft, kennt man auch Christy Moore nicht.

Moore ist einer dieser Songwriter, deren Lieder einen auch hervorragend traurig machen können, wenn man nicht 19 und betrunken ist. Ohne dem Alkohol das Wort reden zu wollen, zumal nicht, wenn es um, komisches Wort, Heranwachsende – wo heran wachsen die eigentlich? – geht, ist Betrunkensein in diesem Alter etwas, an das man sich, so es nicht unglimpflich ausging, auch mit 55 noch gerne erinnert. Manchmal jedenfalls. Mit 19 kann nicht nur der Rausch etwas Dionysisches sein. Ist er außerdem noch mit der Anwesenheit eines anderen Menschen verbunden, auf dessen Person sich möglicherweise – hier wird das Gendern elegant umgangen – ein Begehren richtet, dann eignen sich auch für die Tiktok-Generation manche der leisen Liebeslieder von Christy Moore noch hervorragend für die Balz oder gar deren Vollzug. „Nancy Spain“ zum Beispiel oder „Beeswing“.

Vor auch schon wieder dreißig Jahren hat Moore einen lustigen Song über einen außerordentlichen Moment in der irischen Geschichte geschrieben. Er heißt „Joxer goes to Stuttgart“ und erzählt von der großen Reise einer Gruppe irischer Fußballfans, die zur Europameisterschaft 1988 in die Bundesrepublik D. , also auf den Kontinent, fahren, um dort das Spiel Irland gegen England anzuschauen. Irland gegen England ist gewissermaßen Schalke gegen Dortmund hoch drei, auch weil England bis 1916 Kolonialmacht in Irland war (manche sagen: in Nordirland immer noch ist). Joxer ist einer der Iren und erlebt bei der EM manches, unter anderem hat er einen Traum, dass er gemeinsam mit Jack Charlton das irische Nationalteam aufstellt. Charlton war Engländer, hatte aber als Trainer die Iren völlig überraschend durch die EM-Quali in die Endrunde 1988 gebracht. Und weil Gott manchmal ein Ire ist, schlugen die Iren am 12. Juni 1988 in Stuttgart England mit 1:0. „What happened next is history, brought tears to many eyes“, sang Moore, und Jack Charlton wurde Ehren-Ire.

Nein, ich interessiere mich kaum für Fußball. Aber weil ich mal Chefredakteur war und die Sportredakteure m/w/d ein außerordentlich empfindliches Volk waren (vermutlich immer noch sind), was ihre Wertschätzung durch andere Redaktionsmitglieder, gar Chefs oder Innen anging, hatte ich immer einen kleinen Vorrat von eher peripheren Fußballgeschichten. So was wie Joxer goes to Stuttgart. Die erzählte ich hin und wieder auf der Konferenz (in einer Zeit, als man da noch heitere Geschichten erzählte), sodass der Eindruck entstand, der Chef interessiere sich eben doch irgendwie für Fußball, auch wenn der Chef den Sportteil in erster Linie wegen dessen manchmal hart ans Poetische schrammenden Texten las. Und schätzte. Mein Vorgänger als Chefredakteur interessierte sich wirklich für Fußball, viel mehr als für Poesie.

Kommende Woche beginnt wieder eine Fußball-Europameisterschaft in Deutschland, der Männer, wie man heute bewusstseinsverändert hinzufügt. Irland ist nicht dabei, dafür aber Schottland, das früher auch mal von den Engländern unterworfen wurde. Joxer does not go to Stuttgart. England ist wieder dabei und spielt in einer Gruppe mit Hamlet, also Dänemark, sowie zwei Staaten, die es 1988 noch nicht gab, nämlich Serbien und Slowenien. Dieses Mal muss ich mich nicht für die EM interessieren, weil ich nur noch mit mir selbst konferiere und niemand mehr guckt und horcht, wen ich wie wertschätze. Außerdem ist meine Wertschätzung für mich ohnehin geringer, als sie es damals für den Sportteil war.

Als Nichtfußballinteressierter wird man kaum Möglichkeiten haben, dieser EM zu entgehen, es sei denn, man führe in diesen Wochen in ein Land, in dem kaum Fußball gespielt wird, und würde sein Mobiltelefon nicht mitnehmen. Je weiter die deutsche Mannschaft vordringt, desto schwarzrotgoldener wird die Stimmung werden. Ob es zu Exzessen kommt, wie etwa zu einem Besuch des Bundeskanzlers in der Kabine des halbnackten Teams, weiß man noch nicht, zumal da Olaf Scholz weniger leidenschaftlich ist als Angela Merkel, vor allem in fußballerischer Hinsicht. Allerdings ist der Vergleich der generellen Leidenschaftsquotienten von Scholz und Merkel ungefähr so, wie wenn man sich fragt, ob wohl der Eiffelturm besser singen kann als ein Wombat.

Vom 14. Juni bis zum 14. Juli (und ein paar Tage darüber hinaus) werde ich also den Sportteil wegen der Poesie und die Duineser Elegien wegen des Fußballs lesen. Vielleicht auch hin und wieder ein paar Gedichte von Thomas Bernhard, von dem ich neulich den schönen Satz gefunden habe: „Im Schatten liegt mein Blödsinn auf der Lauer.“ Natürlich ist es unbedingt ratsam, ja erforderlich, dass alle SZ-LuL, Leserinnen und Leser, während der EM die Zeitung besonders aufmerksam lesen und/oder die Website mit Leidenschaft nutzen. Die Welten der Lyrik und der Europameisterschaft nämlich sind überlappend, was sich schon daran zeigt, dass man sie durch kleine Veränderungen miteinander vereinen kann. „Im Schatten liegt mein Füllkrug auf der Lauer“ passt poetisch auch.
Kurt Kister
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