| | | | | 7. April 2023 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | es ist zwar banal, aber doch immer wieder erstaunlich, wie sehr die Wahrnehmung der Welt von den eigenen Lebensumständen abhängt. Nehmen wir etwa, weil es in dieser Woche den Kalender bestimmt, das Osterfest. Für die zunehmende Zahl der Nicht-Christen (m/w/d), egal ob Heiden, Andersgläubige oder Mirdochegaler, bedeutet Ostern entweder ein paar arbeitsfreie Tage oder Familienstress oder Freude mit den Kindern oder alles zusammen. Dann gibt es die Opportunitätschristen (es könnte ja sein, dass doch irgendwas dran ist, gerade wenn man älter wird), die am Ostersonntag mal in die Kirche gehen, so wie sie auch an Weihnachten mal in die Kirche gehen. Der Ostersonntag ist für sie Heiligabend mit anderen Mitteln. Werâs mit Kultur und ein wenig auch mit Religion hat (oder umgekehrt), hört im Dezember das Weihnachtsoratorium, zu Ostern die Matthäuspassion. Was wäre Ostern, gar das Abendland ohne Johann Sebastian Bach? Und dann ist da noch jene Minderheit, die in unseren Breiten jahrhundertelang die Mehrheit war: Menschen, die mit der Passionsgeschichte, mit Tod und Auferstehung, etwas für sie Wichtiges verbinden. Trotz aller Unsäglichkeiten der organisierten Kirchen, die bei den Katholiken schlimmer sind als bei den Protestanten, glauben sie noch. Es ist ein viel individuellerer Glaube als früher. Individualität ist für eine Organisation, noch dazu für eine so hierarchisch strukturierte wie die vatikanische Kirche, meistens ein Problem. Und dennoch sind gerade die leidlich unverzagten, individuell Glaubenden eigentlich die Felsen, auf denen die Kirchen im Europa des 21. Jahrhunderts aufbauen könnten. Sie müssten es tun, aber stattdessen woelkisieren sie immer noch zu viel vor sich hin, wenn es um ihre Zukunft geht. Aber Schluss jetzt damit, schlieÃlich darf das kein Osterleitartikel (OLA) werden, weil der Deutsche Alltag eine irrelevante Kolumne weit hinten in der Zeitung ist. âWeit hintenâ â ich denke nicht immer, aber doch oft und dann mutwillig noch in den allmählich verschwindenden Bahnen der gedruckten Zeitung. Der Prä-künstliche-Intelligenz-Osterleitartikel war mal fast so was wie Michelangelos Fresken oder ein Fallrückzieher von Klaus Fischer: ehrfurchtgebietend, grandios, einmalig (zumindest jedes Jahr). Glaubten mindestens die, die ihn schrieben und einige, die ihn lasen. Der OLA verknüpfte belesene Metaphysik mit publizistischem Predigertum. Ich glaube, ich habe nie einen OLA geschrieben, obwohl ich gerade samstags der Metaphysik näher stehe als der Vernunft. Heute hat mit der Entörtlichung der Zeitung, also ihrer Verpflanzung in die GroÃe Wolke als digitale Ausgabe, vor allem aber als vertikale Bild-und-Text-Wischsammlung auf der Homepage, auch eine Entzeitlichung des Osterleitartikels stattgefunden. Früher fand man ihn am Ostersamstag auf der Seite Vier. Und nur da. Wenn man diese Ausgabe nicht aufhob â und wer tat das schon auÃer den jeweiligen Autoren der Stücke? â verschwand der OLA im Archiv. Dort konnten ihn nur die emsigen Archivarinnen und Archivare wiederfinden, die nach Art von Alberichs Gesellen das auf allmählich vergilbendem Papier geklebte Gedächtnis der Zeitung verwalteten. Das war früher. Heute gibt man einfach âSZ Leitartikel Osternâ in die Suchmaschine ein. Wenn man dies, aus was für Motiven auch immer, im August tut, kommt der OLA dennoch frisch auf den Bildschirm, so als sei er gerade geschrieben worden. So gesehen ist immer Ostern. Oder auch nie. Ganz wie es einem gefällt. Abgesehen vom OLA gibt es eine Menge anderer seltsamer Osterbräuche. Als ich USA-Korrespondent war, habe ich mal beim Ostereier-Rollen (easter egg roll) auf dem Rasen des WeiÃen Hauses zugesehen. Da liefen Kinder mit langen Löffeln in der Hand nicht besonders schnell um die Wette und rollten Eier vor sich her. Der damalige Präsident Bill Clinton schaute zu und lachte mit einem Mund voller Zähne. (Wenn Clinton lachte, hatte ich immer den Eindruck, er habe mehr Zähne als andere Menschen.) Angeblich soll das Rollen der Ostereier etwas damit zu tun haben, dass bei der Auferstehung der Stein vor dem Grab Jesu weggerollt wurde. Warum daraus dann allerdings ein Wettrollen entstanden ist, wissen die Götter. Die Götter? Die Eier sind ohnehin eher heidnisches Zeug, Opfergaben und so. Und natürlich haben sie irgendwas mit Fruchtbarkeit zu tun. Erfahrungsgemäà hat die eine Hälfte der Volksbräuche mit Fruchtbarkeit zu tun, die andere Hälfte mit bösen Geistern. Bei den Khasi in Indien gibt es das Eierorakel, bei dem ein Ei mit viel Mumbojumbo auf eine Holzplatte geworfen wird. Der weise Eierwerfer liest danach aus der Lage der Schalenteile die Zukunft, individuelle Schicksale oder sonstiges bis dahin Verborgenes. Der Eierwerfer ist dort wahrscheinlich so etwas wie bei uns der Osterleitartikler. Ich jedenfalls werde zu Ostern in Hans Blumenbergs âMatthäuspassionâ lesen, in der er sich mit Bachs Matthäuspassion, Gott und dem Leben allgemein auseinandersetzt. AuÃerdem höre ich die Johannespassion sowie die neue Platte von Lankum, einer Dubliner Folkband, die enorm gegenwärtige irische Musik macht. Nicht österlich, aber sehr gut. Möglicherweise lese ich auch den OLA, vielleicht mache ich das aber auch erst im August in Italien. Am Ostersonntag gehe ich wohl in die Kirche. Man kann ja nie wissen, zumal in meinem Alter. | |
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| | | | | | | | | | Beichten in Bayern - eine Kulturgeschichte | | Seit Jahrhunderten ist es jedem Christenmenschen auferlegt, wenigstens einmal im Jahr seine Sünden zu bekennen. Weil die düsteren Beichtstühle abschreckend wirken, halten in Kirchen modernes Design und neue Formen der Seelsorge Einzug. | | | |
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