Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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10. Mai 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht verhindern. Damit sind nicht einmal die großen Dinge gemeint – Klimawandel, Merz als Kanzler, die 1860isierung des FC Bayern –, sondern Alltäglichkeiten. Man stemmt sich zum Beispiel jahrelang gegen etliche Floskeln und Phrasen in der schönen deutschen Sprache, stellt dann aber fest, dass fast alle Menschen in der näheren und weiteren Umgebung solche Phrasen mit einer Selbstverständlichkeit benutzen, die nahelegen, dass alles vergebens war. Es wird allmählich Zeit, in die innere Sprachemigration zu gehen, und auf diesem Gang jene zu preisen, die unterstögerhaft nie aufgeben.

Beispiele? Die Lautfolge: „vielen Dank dafür an dieser Stelle“. Postmodernes Geblubber. Das „dafür“ nach dem Dank ist genauso überflüssig wie die unörtliche Ortsangabe „an dieser Stelle“. Oder: Alle unmöglichen Erscheinungsformen von Wörtern wie „Kult“ oder „Ikone“. Neulich las ich in meiner Lieblingszeitung, Brandt sei ein „ikonischer Kanzler“ gewesen. Das ist fast schon Verbalkult.

Wenn man sich über so etwas beschwert, gilt man erstens als altmodisch, zweitens als Korinthenkacker und drittens als zu wenig wertschätzend. Viertens wird einem gerne entgegengehalten, die Sprache entwickele sich nun einmal. Nun könnte man einerseits sagen, auch der Niedergang sei eine Form der Entwicklung, nur nicht unbedingt zum Positiven. Andererseits entwickelt sich Sprache nicht, weil Sprache als ein Regelsystem von Benennungen, Zuordnungen und Sprechakten selbst gar nichts „tut“. Sprache entwickelt sich nicht, sie wird entwickelt. Menschen entwickeln Sprache, verändern sie. Diese Veränderungen der Sprache spiegeln meistens Veränderungen im Denken, häufiger noch im Fühlen der Menschen wider. Es sind nicht einmal die Menschen, die sprachliche Gewohnheiten verändern, sondern Milieus, Schichten oder Interessengruppen, die der Auffassung sind, dieser oder jener Sprachgebrauch entspreche nicht mehr der modernen Sicht der Wirklichkeit, jedenfalls der Wirklichkeit, so wie sie die Angehörigen der sprachverändernden Gruppe(n) wahrnehmen. Die Veränderung von Sprache ist oft auch ein Versuch, „Wirklichkeit“ zu verändern. Und um die aus subjektiven Motiven vorgenommene Veränderung nicht zuletzt gegenüber Skeptikern zu objektivieren, heißt es dann: Sprache entwickelt sich nun einmal.

Vor ein paar Jahren ist im Dudenverlag ein interessantes Büchlein erschienen, das sich mit dem beschäftigt, „was nicht mehr im Duden steht“ (so der Titel). Seit 2013 zum Beispiel gibt es den „Mohammedanismus“ nicht mehr als Synonym für Islam, 1996 verschwand der Diminutiv „Hündlein“, und die Treckschute (selbst nachschauen) ist seit 2009 abgängig. In der 28. Auflage des Duden von 2020 finden sich gegenüber der 27. Auflage von 2017 gut 300 „veraltete“ Wörter nicht mehr. Dafür aber gibt es an die 3000 neue Wörter, was darauf hindeutet, dass die Abschaffung des Alten weniger schnell voranschreitet als die Einführung des Neuen – oder aber auch, dass das, was war, haltbarer ist als das, was wird. Möglicherweise ist Deutschland, soweit das Land seinen Ausdruck im Duden findet, gar nicht so veränderungsresistent, wie das eine seltsame Argumentationskoalition von Arbeitgeberverband, Genderfreund*innen und Taurus-Befürwortern aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder behauptet. Ach ja, der jede Woche siebenhundertmal zu hörende Satz „Menschen mögen keine Veränderungen“ gehört auch zu meinen Innere-Emigration-Floskeln.

Wörter verschwinden, Dinge auch. Neulich bei einem der beliebten Früher-war-vieles-anders-wenn-auch-nicht-unbedingt-besser-Gespräche stellte ich im Einvernehmen mit meinem Gesprächspartner fest, dass das Gebiss aus zumindest unserem Alltag verschwunden ist. Als Kind in den Sechzigerjahren teilte ich mit meiner damals noch nicht seligen Großmutter, Jahrgang 1899, ein Zimmer. Jeden Abend nahm sie ihr künstliches Gebiss heraus, das mich dann von ihrem Nachtisch aus in einem Glas mit zunächst sprudelndem Wasser quer durchs Zimmer anlächelte. Omas Gebiss war das Symbol für Schlafenszeit. Als mein Vater, Jahrgang 1925, vor ein paar Monaten starb, hatte er zwar nicht mehr alle Zähne, aber doch die meisten. Und kein Gebiss.

Der Zahngesundheit geht es wie der Sprache: Sie entwickelt sich. Also eigentlich entwickelt sie sich nicht, weil sie von Forscherinnen, Zahnärzten, der Gesundheits- und Ernährungsindustrie, der Gesundheitspolitik und nicht zuletzt den Zahnträgern und Zahnträgerinnen (das ist mal cool gegendert) entwickelt wird. Natürlich gibt es auch heute noch viele Gründe, eine herausnehmbare Zahnprothese zu tragen respektive tragen zu müssen. Aber die Zeit, in der sehr viele derjenigen, die älter als 60 waren, ihr Gebiss herausnehmen konnten, ist in unseren Breiten vorbei. Das ist eindeutig ein Vorteil, auch wenn mutmaßlich das Wort „Waterloo-Zähne“ nicht mehr im Duden steht, sollte es denn je da gestanden haben.

Nach der Schlacht von Waterloo im Juni 1815 wurden Tausenden Gefallenen – zumeist junge Männer mit gesunden Zähnen – die Zähne entnommen, also herausgebrochen. Die leichenfleddernden Zahndiebe verkauften sie an Prothesenhersteller, vor allem nach England. Dort sprach man von Waterloo teeth. Grässliche Vorstellung. Fast möchte man sagen: Vielen Dank dafür an dieser Stelle, dass die Waterloo-Zähne nicht nur aus dem Sprachgebrauch verschwunden sind.
Kurt Kister
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