Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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30. Dezember 2022
Deutscher Alltag
Guten Tag,
wenn das eine Jahr nicht mehr und das andere noch nicht ist, befindet man sich im Niemandsland der Zeit. Man kann dieses Niemandsland mit einer mehr oder weniger lärmenden Feier am letzten Tag, der um Mitternacht zum ersten wird, irgendwie zu überwinden versuchen. Das kann schwierig sein, vor allem für Menschen, die eher melancholisch veranlagt sind. Die nämlich neigen oft dazu, sich über das Gewesene Gedanken zu machen und das Kommende daran zu messen. Das Maximum an Optimismus ist dann der Satz: Na ja, viel schlechter kann’s nicht werden.

Nun rechtfertigen viele Ereignisse im Jahr 2022 durchaus den Chiaroscuro-Optimismus der Melancholiker im Hinblick auf 2023. (Die Chiaroscuro-Maler der späten Renaissance und des Barock – Caravaggio! – erzielten mit ihrer Hell-Dunkel-Technik höchst beeindruckende Kontrasteffekte.) Das kommende Jahr wird wohl kaum vom Licht des gerade vergangenen Jahres beleuchtet werden können. Es benötigt, um noch mal eine kunstgeschichtliche Assoziation zu bemühen, lumen, wie es der große Leonardo nannte, eigenes Licht, Körperlicht.

Wer in diesem Jahr einen persönlichen Verlust erlitten hat, weiß auch, dass es so etwas gibt wie ein Niemandsland der Seele. Es trennt die Zeit, in der jemand noch lebte, der oder die einem wichtig war, von der Zeit, in der dieser Mensch nur noch in der Erinnerung lebt. Dieser Text ist eine subjektive Kolumne, in der ich manchmal das Persönliche aufgreife, auch um dem Allgemeinen näherzukommen. Deswegen soll die Rede sein von einem Verlust.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag ist Ludger Schulze gestorben, ein alter Freund und Kollege, lange Zeit Chef des Sportressorts der SZ. Als ich vor mehr als dreißig Jahren Ressortleiter der Reportagenseite der SZ wurde, der Seite Drei, bat ich den damaligen Sport-Vize Schulze, in „,mein“ Ressort zu kommen. Er hatte mehr Erfahrung als ich, war sieben Jahre älter – ich war damals als Chef zu jung – und er hatte ein sehr ausgeprägtes Chiaroscuro-Gemüt: Wenn es ihm gut ging, ging es ihm sehr gut. Er konnte laut lachen, lange feiern, konnte sich herrlich echauffieren und hatte jede Menge lumen. Wenn es ihm aber nicht gut ging, glaubte er manchmal, dass das Niemandsland zwischen der Dunkelheit und dem Licht unüberwindbar sei. Ich kenne das, ich habe eine Zweitwohnung in diesem Niemandsland.

Wir blieben Freunde, auch über die relativ kurze gemeinsame Zeit im selben Ressort hinaus, wenn auch später jahrelang nur aus der Distanz. Ich habe ihn sogar einmal zufällig vor dem Pinguinhaus im Zoo von San Diego in Kalifornien getroffen. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Begriff „Zufall“ nur ein unzureichender Versuch dafür ist, das Unerklärliche zu rationalisieren. Allerdings ist das jene Art der Ratio, mit der man früher sagte, Blitze entstünden, weil Zeus wütend sei.

Schulze starb an einer Krankheit, die nie besser werden konnte und immer schlimmer wurde. Er war sich dessen sehr bewusst. In den letzten Jahren sah und sprach ich ihn häufig, etliche andere seiner Freundinnen und Freunde aus dem Sport, der Zeitung, dem Leben besuchten ihn noch öfter. Er zeigte mir, dass und wie man selbst als dauerhafter Bewohner des Niemandslands zwischen dem Leben und dem Tod immer noch und oft lachen und quatschen kann.

Der ungemein lesenswerte Philosoph Hans Blumenberg hat in seinem Buch „Matthäuspassion“ die Frage gestellt; „Was kann man über einen Menschen sagen?“ Er sinniert darüber, dass die Sprache oft nicht dafür ausreicht, die zu fühlenden Eigenschaften, den Charakter hinreichend zu beschreiben, ihnen gerecht zu werden. „Keine Häufungen von Adjektiven, keine Metaphern helfen dem Versagen ab, der spürbaren Verlegenheit, die sich der Phrase entziehen möchte“, schreibt Blumenberg. Weil das so ist, erzeugen Laudationes der verschiedensten Art, seien es Geburtstagsreden, Verabschiedungsgirlanden oder Traueransprachen, bei manchen im Publikum das Gefühl, einer Routineübung beizuwohnen, auch wenn sich die Rednerin oder der Redner ehrlich bemüht. Das Schlimmste in dieser Hinsicht sind Menschen, die eine solche Rede halten, weil sie müssen oder zu müssen glauben. Ihnen fehlen oft nicht nur die Wörter, sondern vor allem auch der Geist. Dann regieren die Phrasen.

Es ist zu hoffen, dass das neue Jahr besser beginnt, als das alte geendet hat. Das ist einerseits eine Phrase, jeder Abteilungsleiterrede würdig. Andererseits kann sogar eine Phrase manchmal passend sein. Ich hatte kurz vor Weihnachten mit Ludger Schulze für Mitte Januar ein Treffen zu viert oder zu fünft verabredet. Wir hätten darüber gelabert, was uns alles nicht gefällt, am Leben, an der Politik, an der Zeitung, am Fußball (Letzteres war Schulzes Domäne). Dann wären wir zu dem Schluss gekommen, dass „morgen“ eigentlich nur eine Funktion von „gestern“ ist, wobei „heute“ die Grenze zwischen beiden markiert. Oder, anders ausgedrückt, das Leben ist okay, wenn man ein bisschen nörgeln kann und einem dabei ein paar Leute helfen.

Ganz persönlich gesehen, wäre es schön, wenn „heute“ nicht am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages ohne „morgen“ zu Ende gegangen wäre.
Kurt Kister
Redakteur
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Er hat den Ton gesetzt
Ludger Schulze konnte über Sport schreiben wie kaum ein Zweiter – aber das ist nur ein Vermächtnis von vielen. Ohne ihn wäre die Sportredaktion der SZ nicht, was sie heute ist.
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