erinnern Sie sich noch an die gute alte Zeit – damals, als vom deutschen Boden nie wieder ein Joint ausgehen sollte und Wahlkampfslogans „Miethaie zu Fischstäbchen“ hießen? Damals hat man Werbeplakate noch mit der Hand gemalt und gute Kampagnen haben gerne auch mal bis zu drei Monate Entwicklungszeit gebrauch. Das ist natürlich lange vorbei. Heute heißen Wahlkampf-Slogans #AllesIstDrin, und kiffen tut man nicht mal mehr bei den Grünen. Es gibt da aber in Berlin ein kleines gallisches Dorf namens Kreuzberg, in dem lebt die gute alte Zeit immer noch weiter. Hier wohnt unter anderen auch der Comic-Zeichner, Karikaturist und Schriftsteller Gerhard Seyfried – Autor von so schönen Büchern wie „Hanf im Glück“ oder „NATO raus aus dem schwarzen Afghanen“. Seyfrieds vielleicht bekanntestes Werk aber sind die wimmelbildartigen Wahlkampfplakate für den einstigen Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele. Der Zeichner und der einstige RAF-Anwalt – ein Joint Venture der Extraklasse. Gerhard Seyfried jedenfalls kennt sich aus mit guter Parteienwerbung, und so haben wir den gealterten Comic-Sponti einmal danach gefragt, was er eigentlich von den irgendwie harmlosen, bügelglatten und familienfreundlichen Kampagnen der Baerbock-Grünen hält. Seyfrieds Antwort im Cicero-Interview: „Das kommt dabei heraus, wenn sich eine Partei, die mal als Revoluzzer-Partei angefangen hat, den etablierten Parteien anpasst.“ Die große Ära des Widerstands und der Gegenöffentlichkeit ist eben vorbei. Das gilt nicht nur für Kreuzberg, das gilt in weit größerem Maßstab auch für Hongkong. Dort nämlich ist gestern die letzte Ausgabe der einst von Jimmy Lai gegründeten Tageszeitung Apple Daily erschienen. 26 Jahre lang hat die auf Chinesisch publizierte Zeitung Debatten mitgeprägt und die Meinungsfreiheit hochgehalten. Die Journalisten und Redakteure haben die Hongkonger Stadtregierung ebenso kritisiert wie die Regierung in Peking. Und genau deshalb, schreibt Ostasien-Experte Felix Lill auf cicero.de, hat man die Zeitung nun einstellen müssen. Das politische Klima sei nach der Einführung des neuen „Nationalen Sicherheitsgesetzes“ schlicht zu schwierig geworden. Es muss ein melancholischer, ein verhängnisvoller Abschied gewesen sein: „Vor dem Redaktionsgebäude versammelten sich Leser, um den Journalisten für ihre Arbeit zu applaudieren, woraufhin diese vom Fenster aus per Smartphone-Blitzlicht zurückgewinkt haben“, so Lill in seinem sehr lesenswerten Text über das Ende der Presse- und Meinungsfreiheit in Hongkong. Ich wünsche Ihnen ein sommerliches Wochenende! Ihr Ralf Hanselle, stellvertretender Chefredakteur |