Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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16. Februar 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
Mitte Februar ist der Rest des Jahres billiger. Eine Buchhandlung in der landschaftsreichen, aber gesichtslosen Kleinstadt, die nicht meine Heimat, wohl aber mein Zuhause ist, gibt jetzt auf Wandkalender 50 Prozent Rabatt. Anders als das Jahr selbst ist der Wandkalender ein ausgemachtes Saisongeschäft. So wie man Anfang Oktober Lebkuchen kaufen kann, werden zur Mitte des Herbstes schon die Kalender für das kommende Jahr angeboten. Vom Lebkuchen weiß man immerhin, dass er, der Luft ausgesetzt, bald hart und ungenießbar wird; vom jeweils neuen Jahr hofft man trotz gegenteiliger Erfahrungen jedes Mal etwas Besseres. Meistens wird es auch hart und ungenießbar.

Wandkalender werden bis in den Januar hinein verkauft und sind zu Weihnachten das, was früher mal die Krawatten zu Papas Geburtstag waren. Krawatten verschenkt heute niemand mehr, weil offenbar zu vielen Männern nichts anderes übrig bleibt, als zu glauben, es sei uncool und altväterlich, Krawatten zu tragen. Ich bin sicher, dass Krawatten in absehbarer Zeit wieder Mode werden. Selbst wirklich schreckliche Dinge wie die Schlaghose – euphemistisch bell bottom jeans genannt – werden wieder getragen. Ich binde mir hin und wieder eine Krawatte um, und sei es nur, um zu demonstrieren, dass ich nicht Christian genannt werden möchte. Vorsätzlich gebundene Krawatten sind vornamensabweisend.

Wandkalender sind eine Gewohnheitsfrage. In jener Zeit, als Festnetztelefone, Armbanduhren und gedruckte Zeitungen noch zur Grundausstattung der meisten sogenannten bürgerlichen Haushalte gehörten, hing, oft in der Küche, der Tagesabreißkalender. Er war ein Geschenk der Sparkasse oder des örtlichen Haushaltswarengeschäfts (das längst vom E-Commerce erwürgt worden ist). Und dann gab es noch, im Wohnzimmer oder auf dem Flur, einen Monatskalender mit Fotos aus der bevorzugten Urlaubsregion („Schönes Italien“), den Bergen als solchen oder, falls eine Lehrerin im Haus wohnte, mit Kunstreproduktionen, meistens aus der Zeit des Impressionismus. Ich war zwar keine Lehrerin, hatte aber Anfang der Achtzigerjahre einen eigenhändig in Frankreich gekauften Modigliani-Kalender (war nix mit Internetbestellen vor 40 Jahren). Ein Modigliani-Kalender hing damals an keiner mir bekannten Wand. Ich kam mir nahezu avantgardistisch vor.

Dieses Gefühl habe ich längst verloren, der Weg von der Avantgarde zur Nachhut geht manchmal schneller, als man sich hinterher daran erinnert. Auch Modigliani ist unavantgardistisch geworden, obwohl sein Werk wunderbar bleibt und immer teurer wird (sein Gemälde „Nu couché (sur le côté gauche)“ wurde vor ein paar Jahren für 170 Millionen Dollar verkauft). Modigliani wird jetzt sogar in Stuttgart ausgestellt. Diese Aussage ist nicht unbedingt als Urteil über den Avantgardestatus dieser Stadt zu verstehen. Aber sie ist eine Anregung, bis Ende März die dortige Staatsgalerie zu besuchen.

Weil ich grundsätzlich daran glaube, dass Lesen Menschen besser macht, habe ich mir für dieses Jahr zum ersten Mal einen sogenannten Literaturkalender für ein schmales Stück Wand gekauft. Bisher hingen an diesem Platz immer – siehe oben – Kalender mit wöchentlich wechselnden Südtirol-, Berg- oder sonstigen Weltbildern. Jetzt blicke ich auf Franz Kafka und Felice Bauer, auf Max Frisch oder Joan Didion. Ob James Joyce im Laufe des Jahres für eine Woche über den Kalender zu mir kommt, weiß ich nicht. Wenn ich statt mit der S-Bahn nach München mit der Zeitbahn nach Paris fahren könnte, würde ich dort im Februar 1922 anhalten, um in Sylvia Beachs Buchhandlung „Shakespeare and Company“ in der Rue de l’Odéon eine Erstausgabe des „Ulysses“ zu kaufen. Dann würde ich darauf warten, ob Joyce vielleicht vorbeikäme, sodass er mir eine Widmung hineinschreiben könnte. Vor mehr als zwanzig Jahren wurde mal eine solche signierte Erstausgabe versteigert; sie brachte eine halbe Million Dollar. Nicht ganz Modigliani, aber für ein Buch ganz schön viel.

Wenn man zu der Modigliani-Ausstellung nach Stuttgart mit dem Zug fährt, könnte man „Dubliners“ von Joyce als Die-Bahn-hat-sowieso-immer-Verspätung-Lektüre mitnehmen. Das gibt’s im Antiquariat schon für zwei Euro. Der „Ulysses“ sollte ursprünglich mal ein Kapitel der „Dubliners“ werden. Er wurde dann aber viel, viel länger. Besser kann man allein einen Tag nicht verbringen als mit Joyce und Modigliani.

Ob es sich wohl lohnt, jetzt noch einen billigen Kalender zu kaufen? Abgesehen davon, dass man Platz an der Wand haben muss, kriegt man zehneinhalb Monate für den Preis von sechs. Das ist prinzipiell ein gutes Geschäft, schon allein wenn man daran denkt, was man im Leben schon für hohe Preise für manches bezahlt hat, was in nur einem Monat geschehen ist. Ja, klar, man kriegt mit einem Kalender nicht die „zugehörige“ Zeit verkauft, keine vier Wochen, keine dreißig Tage, sondern nur ein Bild mit Ziffern, das man so lange an der Wand hängen lässt, bis der Monat vergangen ist.

Aber dann sind es doch mehr als Bilder. In meinem Literaturkalender sehe ich diese Woche Toni Morrison. Ich habe sie mal 1993, im Jahr, als sie den Literaturnobelpreis erhielt, bei einer Kulturveranstaltung in Washington kurz kennengelernt. Eine beeindruckende Frau mit einer sonoren Stimme und einem kehligen Lachen. Das Bild weckt Erinnerung und Leseerinnerungen. Lohnt sich doch, so ein Kalender. Sogar zum vollen Preis.
Kurt Kister
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