Liebe/r Leser/in, an diesem historischen Sonntag, als um 19.46 Uhr deutscher Zeit Joe Biden seinen Verzicht erklärt, fällt mir sofort ein, wie ich zum ersten Mal jene Frau erlebt habe, der er jetzt auferlegt hat, sein Erbe anzutreten: Kamala Harris, Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten seit 2021. Dreimal trat sie bei der Münchner Sicherheitskonferenz im „Bayerischen Hof“ auf. Jedes Mal streng in Schwarz gekleidet, beeindruckend eloquent und damit unwillkürlich die Frage provozierend: Warum geht diese Frau, die hier so sympathisch die Werte des Westens beschwört, daheim im Tagesgeschäft so unter? Haben wir Europäer uns blenden lassen? Oder stimmt, was einer aus dem Tross des Bundeskanzlers auf den Hotelfluren mutmaßte: „Der US-Präsident hält sie klein, Biden lässt sie nicht glänzen.“ Seit Sonntagabend sieht die Welt anders aus: Joe Biden hat Harris zur künftigen Anführerin der freien Welt erkoren, über Nacht werden ihr nun fast schon messianische Fähigkeiten zugeschrieben. Die Ekstase hierzulande erinnert an die Ankunft Barack Obamas seinerzeit, der das linksliberale Deutschland später so bitter enttäuschen sollte, wie Elke Heidenreich, gewiss keine Rechte, in ihrem Bestseller („Altern“) über den „König der Plattitüden“ schreibt: „Barack Obama, beladen mit den Hoffnungen fast der ganzen Welt, hat uns mehr enttäuscht als irgendein anderer Politiker.“ Macht Kamala Harris es jetzt besser? Hat sie zuvörderst das Zeug, Donald Trump zu schlagen? In ihrer Rede in München hat sie den Widersacher mit keinem Wort erwähnt, und doch wusste jeder, wer gemeint war, als sie Demokratie wie internationale Zusammenarbeit hochhielt, um vor den „anderen in Amerika“ zu warnen, die Diktatoren umgarnen und die Nato-Verbündeten brüskieren: „Diese Weltsicht ist gefährlich, destabilisierend und kurzsichtig“, so ihre Worte damals. Die Differenzen in der Sicherheitspolitik sind in der Tat gewaltig, ansonsten müssen wir uns nichts vormachen: Die Parole „America First“ gilt für beide Lager, sie wird nur unterschiedlich interpretiert. Hat Biden versucht, möglichst viele Länder in die globale Ordnung zu integrieren, um China zu isolieren, legt Trump sich direkt mit China an – wie mit allem sonst, was sich ihm in den Weg stellt. Die markigen Töne des Handelskriegers haben wir im Ohr. Würde er damit die deutsche Wirtschaft strangulieren? Wohl kaum, so das Fazit einer Debatte diese Woche zwischen den Ökonomen Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts, und Markus Brunnermeier, einem in Princeton lehrenden Niederbayern von Rang. Die wahre Bedrohung sei nicht Trumps Protektionismus („Damit können wir umgehen“), sondern die ausufernde, von allen Präsidenten betriebene Staatsverschuldung Amerikas, die im globalen Crash enden könnte. „Die Erosion des Vertrauens hat bereits begonnen“, sagt Fuest. Brunnermeier hat die einschlägigen Grafiken dazu. Die US-Staatsschulden klettern absehbar auf 50 Billionen Dollar, jede Minute kommen sechs Millionen Dollar dazu. „Das kann so nicht weitergehen“, mahnt der IWF. Amerika werde zum Risiko für die Finanzstabilität. Ganz gleich, wer im Weißen Haus regiert. |