Liebe/r Leser/in, was sind schon Worte? Wir sprechen sie aus, schon sind sie verhallt und verweht. Es gibt einfach zu viele davon. Worte übertönen einander, begraben sich gegenseitig. Und doch hängen wir an Worten. Wir betonen sie, wir wiederholen sie, wir nennen sie wichtig. So versuchen wir ihre Halbwertszeit zu verlängern. Bestimmte Worte, so sagen wir, geben unserem Wesen Ausdruck. Wir wählen sie sorgfältig, streiten über sie, formulieren sie neu – und packen sie, wenn wir Mitglieder der entsprechenden Kommission innerhalb der CDU wären, in ein Grundsatzprogramm. Würden wir zu den 1001 christdemokratischen Delegierten zählen, die sich gerade in einem Hotel in Berlin-Neukölln zu ihrem Parteitag versammeln, würden wir über dieses Programm jetzt abstimmen. Ein neues Grundsatzprogramm ist ein klein wenig wie eine neue Verfassung. Im Entwurf der neuen CDU-Verfassung stehen die Worte: „Ein Islam, der unsere Werte nicht teilt und unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt, gehört nicht zu Deutschland.“ Der Satz soll die Behauptung übertönen, der Islam gehöre zu Deutschland. Er bedeutet eine Abkehr von der Union der Merkel-Jahre. Irgendwie. Denn ein Islam, der unsere Werte teile und unsere freiheitliche Gesellschaft akzeptiere, so lautet der obige Satz im Umkehrschluss, gehöre eben doch zu Deutschland. Die Union des Friedrich Merz (und er ist es, der die Partei prägt und lenkt) wendet sich also von ihrer Vergangenheit ab – und begreift sie dennoch als ihr gültiges Erbe. Wie auch anders? Es wäre arrogant, vermessen und fatal, sich von jenen Millionen muslimischen Mitbürgern distanzieren zu wollen, die die Regeln und Werte dieses Landes respektieren und für dieses auch einstehen. Schafft der neue Grundsatz also Klarheit, wenn es um die religiöse Vielfalt in Deutschland geht? Er würde es, wenn wir davon ausgehen können, dass es einen Islam gibt, der die Werte einer freiheitlichen Gesellschaft akzeptiert. Eine freiheitliche Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass in den entscheidenden Fragen des Zusammenlebens die Religion nicht mehr das letzte Wort hat. Es gelten weltliche Regeln und Gesetze – und sie gelten für alle gleich. Gibt es einen Islam, der dies akzeptiert? Ich kenne ihn nicht. Entsteht irgendwo ein aufgeklärter Islam, der zugeben würde, der Koran besitze nur einen eingeschränkten Geltungsbereich? Ich weiß davon nichts. Aber vielleicht wissen ja die 1001 Delegierten in einem Hotel in Neukölln etwas von diesem Islam. Vielleicht hoffen sie auf einen Islam, der sich im Alltag einer freiheitlichen Gesellschaft nicht mehr so wichtig nimmt. Ein Islam, der sich selbst vergisst. Ein Islam, dessen Worte verhallen. |