Mit dem Wissen ist es an der Börse so eine Sache
Mit dem Wissen ist es an der Börse so eine Sache von Sven WeisenhausAm Dienstag fragte mich ein Börse-Intern-Leser per E-Mail, welchen Anteil der automatische Computerhandel an den Börsenbewegungen hat, was die Börsen aktuell befeuert (die Notenbankliquidität?) und wie das Geld der Notenbanken den Weg an die Börse findet. Ihn würde interessieren, was ich darüber wisse. Man weiß an der Börse stets nur ein Teil vom Ganzen Mit dem „Wissen“ ist es an der Börse allerdings so eine Sache. Denn um wirklich eindeutig festzustellen, was die Kurse aus welchem Grund gerade bewegt, müsste man alle Marktakteure nach ihren Beweggründen befragen. Das ist aber schlicht unmöglich. Man kann daher stets nur Annahmen treffen bzw. die Meinung eines bestimmten Marktanteils einholen, zum Beispiel über eine Befragung, wie sie zum Beispiel von diversen Anbietern von Sentiment-Indikatoren vorgenommen wird. Über derartige Wege erhält man immerhin schon einen Eindruck davon, was Teile der Märkte bewegt. Und wenn zum Beispiel eine Reihe von großen Fondsgesellschaften befragt wird, dann weiß man, wie sich ein großer und relevanter Teil der Märkte verhält. Daneben könnte man auch die Informationen von sämtlichen Brokern einholen und diese zusammenfassen. Aber selbst die Broker wissen ja nicht immer, wer ihnen aus welchem Grund eine Order erteilt, da dies ja zum Großteil auch elektronisch und automatisiert per Computer abläuft. Welchen Anteil haben automatisierte Computerprogramme am Börsenhandel? Letztlich gehe ich, nach allem was ich bislang an Erfahrung gesammelt habe, davon aus, dass im kurzfristigen Bereich Computeralgorithmen durchaus einen großen Teil der Kursschwankungen ausmachen können. Bereits 2010 gab es Annahmen, die im (Hochfrequenz-)Handel der Computer einen Anteil von mehr als 50 %, ja sogar mehr als 60 % sahen. 5 Jahre später schätzte man den Anteil des Computerhandels ähnlich hoch ein. Das sagt mir aber eher, dass man selbst nach 5 Jahren noch weitestgehend im Dunkeln tappte und lediglich Annahmen treffen konnte, was wohl auch heute noch so sein wird. Computer können das kurzfristige Geschehen dominieren Die kurzfristige Dominanz von Computern kann man insbesondere im direkten Umfeld von veröffentlichten Nachrichten (oder Ereignissen) erkennen. Die Programme durchsuchen die Meldungen nach bestimmten Informationen und reagieren dann automatisiert darauf. Vielfach kommt es daher zu scharfen Kursbewegungen, sobald die Nachrichten veröffentlicht sind. Kein Mensch kann eine Nachricht derart schnell lesen, bewerten und umsetzen, es sei denn, es sind Spekulanten am Werk, die einfach auf eine bestimmte Kursreaktion setzen und daher schon früh entsprechende Orders platzieren. Informationen in den Kontext und den Hintergrund korrekt einordnen Ich stelle aber auch regelmäßig fest, dass die Kurse häufig zunächst in die „falsche“ Richtung und in einer zweiten Reaktion dann in die entgegengesetzte Richtung laufen. Das deutet für mich darauf hin, dass zuerst die Computer anhand ihrer festgelegten Schemata reagieren. Vereinfacht gesagt: Liegt ein Wert über den Erwartungen, wird von den Programmen gekauft, andernfalls verkauft. Gerade der schnelle Computerhandel ist aber meist nach wenigen Sekunden / Minuten bereits erledigt. Derweil analysieren immer mehr Anleger die Nachrichten, interpretieren diese, ordnen sie in den Kontext ein, berücksichtigen die Hintergründe und handeln dann dementsprechend. Zum Teil werden dann auch Transaktionen von Computern korrigiert bzw. durch die Orders einer Vielzahl menschlicher Marktteilnehmer übertrumpft. Die Computer werden dadurch wieder beeinflusst, da sie das neue Marktgeschehen monitoren, und sie positionieren sich gegebenenfalls neu. Computerhandel und kurzfristige Trends Im kurzfristigen Bereich können Computer auch Trends auslösen und sind ohne Frage zu einer Marktmacht geworden. Computer handeln heutzutage, wo die künstliche Intelligenz eigentlich immer noch in den Kinderschuhen steckt, noch nach mehr oder weniger klaren Vorgaben. Einige orientieren sich an Chartmarken oder Kursbewegungen. Werden Chartmarken in einer bestimmten Konstellation über- oder unterschritten oder kommt einfach nur Bewegung in den Markt, werden Käufe bzw. Verkäufe ausgelöst. Diese können einen Trend auslösen bzw. verstärken. Der Crash vom Jahresbeginn dürfte vom automatisierten Computerhandel ausgelöst oder zumindest verstärkt worden sein und in eine Übertreibung geführt haben. Womöglich haben Menschen diese Übertreibung erkannt und mit Käufen die anschließende Kurserholung ermöglicht, die dann vielleicht wieder vom Computerhandel verstärkt wurde, bis hin zu einer erneuten Übertreibung, die jetzt ganz aktuell wieder korrigiert bzw. konsolidiert wird. Übergeordnet bestimmen die großen Investoren die Trends Im mittel- und insbesondere im langfristigen Bereich glaube ich allerdings nicht, dass der Handel überwiegend von Computern gesteuert wird. Hier sind große Investmentgesellschaften, wie Fonds und Pensionskassen entscheidend, die Kundengelder nach klassischen fundamentalen Kriterien anlegen und umschichten. Durch ihre Investitionen werden übergeordnete Trends gebildet. Diese folgen dann langfristig der Gewinnentwicklung der Unternehmen. Da vor allem in den USA die großen Pensionsfonds, aber auch große Investmentfonds sehr viel Vermögen verwalten, stellen diese ebenfalls eine Marktmacht dar. Eine bunte Mischung Die Bewegungen der Börsenkurse sind also stets eine Mischung aus Computerhandel und menschlich initiierten Transaktionen. Dabei wird der Anteil zwischen den beiden wohl stark variieren, je nach Ereignis und betrachtetem Zeithorizont. Welchen Anteil der Computerhandel ausmacht, lässt sich wohl nur statistisch erheben. Mir sind derartige Statistiken aber leider nicht bekannt. Vielleicht hat einer von Ihnen ja nähergehende Informationen, die er mir zur Verfügung stellen kann für eine der nächsten Ausgaben der Börse-Intern. Wie gelangt das Geld der Notenbanken an die Börse? Über die Frage des Lesers, wie das Geld der Notenbanken an die Börse gelangt, kann man ebenso nur philosophieren. Grundsätzlich soll die Notenbankliquidität ja in der aktuellen Krise der Kreditvergabe (Geschäftsbanken an Unternehmen und private Haushalte) dienen. Aber die Notenbanken kaufen dabei den Geschäftsbanken ja auch im großen Stil ihre Anleihen ab. Was die Banken dann letztlich mit dem dadurch zufließenden Geld machen, ist nicht eindeutig bekannt, auch den Notenbanken nicht im Detail. Man kann es daher lediglich anhand der Bankbilanzen und statistischen Daten, wie der Entwicklung der Kreditvergabe insgesamt, erahnen. Auch was die Kreditnehmer mit dem ihnen zufließenden Geld machen, ist nicht in allen Details bekannt. Wird das Geld in eine Immobilie angelegt, ist das noch relativ leicht ermittelbar. Aber was macht der Verkäufer der Immobilie mit dem ihm zufließenden Geld? Und wenn der Kreditnehmer ein großes Unternehmen ist, wird es schon deutlich schwieriger festzustellen, ob die neue Liquidität zum Beispiel in die Produktion oder an den Kapitalmarkt fließt. Woher kommt das vermeintliche Wissen über die Stimmung der Anleger? Sie sehen also anhand weniger Beispiele, dass die Fragen, welchen Anteil der Computerhandel hat, was die Börsenkurse konkret bewegt und wie das Geld der Notenbanken an die Börse gelangt, nicht eindeutig beantwortet werden können – von niemandem. Dazu auch ein ganz konkretes Beispiel: Gestern Abend um 19:12 Uhr (MESZ) lief die Meldung über den Ticker einer großen und renommierten Nachrichtenagentur, die Aussicht auf eine längerfristige Rezession durch die Coronavirus-Pandemie verunsichere die US-Anleger. „Der Nachhall der Warnung von US-Notenbankchef Jerome Powell vor der schärfsten US-Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg drückte auf die Stimmung“, hieß es in der Meldung. An dieser Stelle könnte man natürlich fragen, welche US-Anleger eigentlich gemeint sind und wer diese gefragt hat, aber grundsätzlich war die Meldung durchaus plausibel, da Jerome Powell die Märkte ja tatsächlich erst kürzlich auf eine längere Schwächephase eingestimmt hatte und der Dow Jones vier Tage in Folge gefallen war. Im gestrigen Tief stand er im CFD-Handel (siehe folgender Chart) bei nur noch rund 22.800 Punkten – fast 1.800 Zähler bzw. mehr als 7 % unter dem Tageshoch vom Montag. (Quelle: Comdiect) Allerdings befand sich der Dow Jones gestern um 19:12 Uhr schon in einer Kurserholung, die sich noch bis auf über 23.600 Punkte fortsetzte. Und um 22:39 Uhr folgte dann eine Meldung auf demselben Nachrichtenticker, die lautete: „Hoffnungen auf eine baldige Konjunkturerholung haben die US-Börsen am Donnerstag nach einer Berg- und Talfahrt gestützt.“ Aha! Hatten die Anleger also um 19:12 Uhr noch aus Angst vor einer anhaltenden Rezession panikartig die Flucht ergriffen, so waren sie nur etwas mehr als 3 Stunden später voll der Freude über die sonnigen Zukunftsaussichten – überspitzt formuliert. Ich habe heute mal den verantwortlichen Redakteur, der beide Nachrichten verfasst hatte, angerufen, da ich wissen wollte, welcher Quellen er sich denn bedient hat. Das Telefonat vermittelte mir leider lediglich den Eindruck, dass es aktuell quasi zwei vorbereitete Varianten gibt, um die Kursbewegungen zu begründen: Steigen die Kurse, wird die Variante 1 herangezogen, wonach die Anleger eine Kurserholung erwarten, fallen die Kurse, beschreibt Variante 2, dass die Coronavirus-Krise und die zunehmende Angst vor einer anhaltenden Wirtschaftsschwäche schuld sind. Kurse machen Nachrichten, Nachrichten beeinflussen die Stimmung Und das belegt wieder einmal, dass tatsächlich die Kursentwicklungen die Nachrichten machen, und nicht andersherum. Allerdings können die Nachrichten dadurch wiederum die Kurse beeinflussen. Denn wenn durch steigende Kurse positive Nachrichten veröffentlicht werden, kann dies die Stimmung der Anleger beeinflussen und es so zu weiter steigenden Kursen kommen. Auch das ist eine nicht zu unterschätzende Marktmacht. Als Anleger haben Sie also die Aufgabe, bei allen Nachrichten eine Art „Plausibilitätsprüfung“ vorzunehmen. Dow Jones: Ein Fehlausbruch an einer markanten Unterstützung Zum Abschluss möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, was aus meiner Sicht der Grund für die gestrigen Kursbewegungen war. Dazu verweise ich auf den folgenden Chart des Dow Jones vom CFD-Handel. (Quelle: Comdirect) Seit Anfang April befindet sich der Index in einer Bogenformation (roter Bereich). Und gestern hat es an einem markanten Tief, ausgebildet am 21. und 22. April bei rund 23.000 Punkten, einen Fehlausbruch gegeben (roter Kreis). Technisch orientierte Anleger und Computerprogramme könnten diese Unterstützung und insbesondere das Fehlsignal zum Einsteigen veranlasst haben, weshalb es zu einer Kurserholung kam. Was wir gestern im Dow Jones gesehen haben, war also mit ziemlicher Sicherheit kein plötzlicher Stimmungsumschwung. Denn die Einschätzung der Anleger über die Entwicklung der Konjunktur dürfte kaum binnen weniger Stunden oder gar nur Minuten derartig umgeschlagen sein, zumal es in dem beschriebenen Zeitraum keine entsprechende Nachricht gab. Die Stimmung dürfte daher eher sekundär gewesen sein. Stattdessen haben wir im Dow Jones gestern eine simple (chart)technische Reaktion gesehen. Fazit Schlussendlich werden wir aber wohl nie genau erfahren, was die Börsenkurse im Einzelnen in dieser und jener Situation bewegt hat. Daher bleibt Börse immer auch Spekulation. Wir setzen alle stets nur auf Wahrscheinlichkeiten (oder im schlimmsten Fall auf unsere Überzeugungen). Und die Erfahrung hilft dabei, die Wahrscheinlichkeiten gewinnbringend zu nutzen. Was im Dow Jones nun wahrscheinlich ist Und so ist es im Dow Jones aktuell wahrscheinlich, dass es zu einer Trendwende im kurzfristigen Bereich und stärker fallenden Kursen kommt, wenn die 23.000er Unterstützung nachhaltig gebrochen wird und sich die Bogenformation durchsetzt. Und wenn der Bogen nach oben gebrochen wird, ist eine Wiederaufnahme der Kurserholung wahrscheinlich, womit sich die jüngsten Rücksetzer lediglich als Konsolidierung herausstellen würden. Bestätigt wird dies bei Kursen oberhalb von 25.000 Punkten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Geldanlage Ihr Sven Weisenhaus www.stockstreet.de
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