| | | | | 25. Juni 2023 | | Prantls Blick | | Die politische Wochenschau | | | |
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| | | Prof. Dr. Heribert Prantl | | | |
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| | | In der rechten Tasche des Kampfanzuges steckte, schön gefaltet auf 23 x 15 x 1,7 Zentimeter, die ABC-Plane. Sie sollte Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Gefahren bieten. "Im Ernstfall", so erklärte es der Bundeswehr-Ausbilder den Rekruten, "machen Sie das so: Sie fassen das Ding an den gekennzeichneten Ecken, sodass der Wind das Entfalten begünstigt. Sie ziehen sich dann die Plane über den Kopf, gehen in die Hocke, halten die Plane mit den FüÃen oder Knien fest und ziehen sich die ABC-Schutzmaske über den Kopf". So einfach und so billig war damals, Mitte der siebziger Jahre, der Schutz vor den ABC-Gefahren zu haben. Und wir wehrpflichtigen jungen Soldaten grinsten über diese ausfaltbare Einfalt und über die Idee, Schutz vor atomarem Niederschlag mit einer Plastikplane im Wert von zehn Mark zu erhalten. Das ist ziemlich lange her, ich war jung damals, es war gleich nach dem Abitur, ich war beim 3. Beobachtungsbataillon, das zur 4. Jägerdivision gehörte; es war eine Radareinheit. Ich hatte mich aus Neugier für den Wehrdienst entschieden. Aber die Neugier wurde von Stupidität und Stumpfsinn bald zugedeckt. Mein Dasein als Soldat ging mir gehörig auf den Geist und ich überlegte mir an jedem Morgen, ob ich den Wehrdienst nicht doch hätte verweigern sollen. Und als es dann für einige Zeit zum Manöver auf den US-Truppenübungsplatz Grafenwöhr ging, packte ich mir ein Antidot ein: In der rechten Tasche des Kampfanzugs war die oben bezeichnete ABC-Schutzplane, in die linke steckte ich mir die Taschenbuchausgabe von Erich Maria Remarques âIm Westen nichts Neuesâ. Sie war nicht ausfaltbar, aber gut lesbar. Das dicke Taschenbuch wurde meine Manöverlektüre, damit lag ich im Manöver-Schützengraben. Und mit einem Bleistiftstummel strich ich mir immer wieder ein paar Sätze an. Es gibt ein Foto von damals; der Zugführer, ein Leutnant, hat es gemacht. Man sieht einen etwas mopsigen Gefreiten Prantl, olivgrün gewandet, im Qualm von Manövermunition und mit ausgebeulten Kampfanzugtaschen. Hätte Remarque es heute leicht? Daran habe ich am vergangenen Donnerstagabend gedacht, als in Osnabrück, seiner Geburtsstadt, der 125. Geburtstag von Erich Maria Remarque gefeiert und der nach ihm benannte Preis an die achtzigjährige russische Schriftstellerin und Putin-Kritikerin Ljudmilla Ulitzkaja überreicht wurde. Ich war Mitglied der Preisjury. Ulitzkaja ist, wie die kluge Historikerin Stefanie Schüler-Springorum in ihrer Laudatio sagte, âseit 1999 eine der wortmächtigsten Rednerinnen gegen den Krieg: den in Tschetschenien, den in Georgien, den auf der Krim und in der Ukraine von 2014, gegen den sie den russischen PEN-Klub in Stellung brachte, bis sie selbst öffentlich als US-amerikanische Agentin denunziert wurdeâ. Ulitzkaja lebt seit März 2022 im Exil in Berlin. Ich habe sie in Osnabrück als eine handfest feine und humorvoll kluge Frau erlebt. Ãber meine Gedanken zu Remarque, über die Glückwünsche zu seinem 125. Geburtstag und darüber, was uns Remarque noch zu sagen hat, schreibe ich in meinem heutigen SZ-Plus-Text. Hätte Erich Maria Remarque es heute leicht? Es ist dies eine Frage, die mich an seinem 125. Geburtstag begleitet hat.
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| | | Geschenke für Erich Maria Remarque | | |
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| Ich wünsche Ihnen gute letzte Junitage und den Geruch des Sommers in der Nase. | |
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| Heribert Prantl | | Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung |
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| | | | | | | | | | Endstation Trudering | | Es ist ein dickes, es ist ein sehr dickes Buch. Es ist ein Buch, das man nicht unbedingt von der ersten bis zur letzten Zeile lesen muss. Es genügt auch, wenigstens einige der Lebensgeschichten zu lesen, die dieses Buch erzählt. Es sind die Geschichten von Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind; es sind Geschichten darüber, warum sie geflohen sind und wie es ihnen dabei ergangen ist; es sind Geschichten, die Schicksale entfalten, es sind Geschichten, die ans Herz greifen; es sind Geschichten, die zeigen, dass die Zehntausende, die auf der Flucht gestorben, die im Mittelmeer ertrunken sind, ihre Geschichte haben, dass sie nicht Nummern waren, sondern Menschen. Sie bleiben nicht namenlos, das Buch bringt ihre unantastbare Würde ans Licht. Da ist, zum Beispiel, die Geschichte von der eigenwilligen und klugen Melike, einem kurdischen Mädchen, 15 Jahre alt, die zusammen mit der Mutter und dem Bruder ein Leben in Angst hinter sich lassen und ein neues Leben in Deutschland finden wollte; die Visa-Anträge in der deutschen Botschaft waren abgelehnt worden Die Familie kratzte ihr Geld zusammen, die ersten Etappen der Flucht schafften sie auf eigene Faust. Dann schlossen sie sich einer kleinen Gruppe kurdischer Flüchtlinge an, Schlepper versprachen, sie nach Deutschland zu bringen. Am 23. Mai nach Mitternacht bestiegen sie heimlich einen Güterzug, versteckten sich in einem Waggon, der Ersatzteile für Autos transportierte. Das Buch schildert, wie es dann weiterging: âUm 13.30 fährt der Zug im Bahnhof Trudering bei München ein. Die Flüchtlinge beschlieÃen, hier abzusteigen; die bayerische Hauptstadt ist nah, es sollte der entscheidende Sprung in die Freiheit und in ein neues Leben sein. Melikes Mutter steht bereits auf deutschem Boden und schaut hinaus zu ihren Kindern, die ihr folgen. Ãber ihnen verläuft Starkstrom. Niemand greift an die Leitung, doch plötzlich fängt es in Strömen an zu regnen. Das Wasser wird zur tödlichen Gefahr: 15 000 Volt aus der Bahnoberleitung werden von einem heftigen Regenguss geleitet und fahren in die Körper der Absteigenden hinein. Noch bevor Melike ihre Fuà aufsetzen kann, wird sie erfasst. Sie hält ihren Bruder an der Hand. Die Mutter sieht die Haare ihres Sohnes in Flammen aufgehen und schafft es, ihn wegzuziehen; seine Hand ist schwer verbrannt â¦â. Melike wird auf die Geleise geschleudert. In der Klinik wird sie ins künstliche Koma versetzt. Sie ist nicht mehr aufgewacht. Sie starb am 8. Juni. Tuckermann / Kristina Milz (Hrsg): Todesursache Flucht. Eine unvollständige Liste. Das Buch ist soeben, am 20. Juni, zum Weltflüchtlingstag, im Hirnkost-Verlag in einer stark erweiterten Neuauflage als Hardcover erschienen. Es hat 865 Seiten und kostet 20 Euro | | | | |
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| | | | | Plaudereien aus dem Reisekoffer | | Wer aus dem Nähkästchen plaudert, verrät Geheimnisse und gibt Einblicke in eigentlich Vertrauliches. Literaturkenner kennen die Szene aus Theodor Fontanes Roman "Effi Briest": Dort findet Herr von Instetten per Zufall die Liebesbriefe des Majors Crampas an seine Frau, die ganz zuunterst im untersten Fach des Nähtisches gelegen hatten. Ganz so vertraulich sind die Einblicke nicht, die Daniel Brössler, Claus Hulverscheidt, Robert RoÃmann und Mike Szymanski geben; die Kollegen plaudern im Buch Zwei der SZ vom Wochenende nicht aus dem Nähkästchen, sondern aus dem Reisekoffer. Sie berichten von ihren Beobachtungen und Erfahrungen auf Reisen mit deutschen Regierungsvertretern. Sie erzählen von der Flugbereitschaft der Bundeswehr, von den âRegierungsfliegernââ und von der Organisation, die es da braucht und den Turbulenzen, die es da gibt. Die Idee zu dieser Flugbereitschaft hatte, das habe ich bis zum Lesen dieses groÃen SZ-Textes nicht gewusst, Franz Josef StrauÃ, der damalige Verteidigungsminister: Er wollte, dass führende Regierungsmitglieder âjederzeit die Möglichkeit haben sollten, unabhängig von Linienmaschinen Dienstreisen durchzuführenâ. Am 1. April 1957 wurde die Flugbereitschaft gegründet. | | | |
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| | | | | | Meinung | | Kommentare, Kolumnen, Gastbeiträge und Leserdiskussionen im Ãberblick | |
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