Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
 ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ 
szmtagiomb_np
Zur optimalen Darstellung empfehlen wir Ihnen die Browserversion
12. Juli 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
aufs öffentlich-rechtliche Fernsehen zu schimpfen, ist zwar ungefähr so originell, wie trapattonisch zu sagen, dass die Ampel fertig hat. Dennoch wundert man sich manchmal, zum Beispiel am vergangenen Sonntag, an dem in der ARD Tino Chrupalla und im ZDF Alice Weidel in Sommerinterviews zu sehen waren. (Das Sommerinterview als solches ist so etwas wie eine Sommergrippe, nur kürzer.) Wenn man kein thüringischer Putin-Versteher ist, sind zwei AfD-Vorsitzende am selben Abend eindeutig mindestens einer zu viel. Einmal wegen AfD, aber dann auch wegen Übersättigung, weil man auch nicht an einem Sonntag Lars Klingbeil auf dem einen Kanal und Saskia Esken auf dem anderen sehen möchte, geschweige denn beide zusammen auf einem. Überhaupt sollten Doppelspitzen nur dann gemeinsam auftreten, wenn man dadurch, wie im Falle Uwe Seelers und Gerd Müllers bei der WM 1970, mindestens ins Halbfinale kommt.

Vielleicht war die AfD-Doppelung nur der Schlamperei zwischen ARD und ZDF geschuldet. Es könnte aber auch sein, dass eine solche Doppelprogrammierung ein heimlicher Versuch ist, das Zuschauervolk weiter vom sogenannten linearen Fernsehen zu verscheuchen und es in die Arme der Mediathek-Kraken und der Streaming-Abzocker zu treiben. Die durchschnittliche Intendantendirektorin nämlich glaubt, lineares Fernsehen sei etwas für alte Leute, und mit alten Leuten möchten sich Transformer und Innovatorinnen nicht so gerne abgeben. (In der Wahrnehmung von Großtransformierern in Zeitungsverlagen entspricht das lineare Fernsehen dem Lesen gedruckter Zeitungen, was Geschäftsführer und manche andere Chefs sowie Innen für eine kuriose Sitte aus dem vergangenen Jahrhundert halten.)

Möglicherweise war die AfD-Doppelprogrammierung aber auch nur eine Antwort darauf, dass wegen der Fußball-EM plötzlich wieder viel mehr Leute normal, also linear Fernsehen geschaut haben. Wenn die Vergangenheit unerwartet die Gegenwart wird, muss man die Zukunft korrigieren – egal, ob es um lineares Fernsehen geht oder um Trump und Biden.

Allerdings greift beim Ansichtigwerden von Weidel, Krah, Chrupalla, Höcke etc. bei einer Mehrheit der Menschen auch jener Effekt, den die Konrad-Adenauer-Stiftung vor ein paar Jahren mal in einer Studie festgestellt hat. Damals gaben 62 Prozent der Befragten an, sie wollten nichts mit AfD-Wählern zu tun haben. Diese Ablehnungsquote wäre heute, zumal in dem einen oder anderen östlichen Bundesland, vermutlich etwas niedriger. Dennoch gehören AfD-Funktionäre, Abgeordnete m/w/d oder Hardcore-Blaubraun-Wähler nicht zu jenen, mit denen man gerne Zeit verbringen möchte. Interessanterweise trifft das der erwähnten Studie zufolge auch auf SUV-Fahrer zu: 20 Prozent der Befragten wollten keinen Kontakt zu X5- oder Q8-Bewegern. Die Schnittmenge zwischen AfD-Wählern und SUV-Fahrern stellt vermutlich die am heftigsten abgelehnte Gruppe in der deutschen Bevölkerung dar.

Überhaupt fällt es leichter, Menschen aufzuzählen, die man nicht mag, als solche, die man mag. Für Ablehnung reicht meistens schon ein Kriterium: schwätzt zu viel, wählt die Falschen, riecht, geht zum Adele-Konzert, lügt, jammert dauernd und ist auch sonst eher gemoin. Von der ziemlich guten Band Dawes gibt es einen Song mit dem Titel „Things Happen“. In ihm ist die Rede von jemandem, der (oder die) sich nur von Dingen und Menschen umgeben sieht, die er für unangenehm, widerwärtig und/oder verabscheuungswürdig hält. Man solle, empfiehlt der Songschreiber mit freundlicher Ironie, erst mal eine Liste aller blöden Dinge machen, die einem widerfahren sind („let’s make a list of all the things the world has put you through“), und dann an die vielen denken, die man nicht mag („let’s raise a glass to all the people you’re not speaking to“). Dawes stammt zwar aus Kalifornien, könnte aber angesichts der Anwendbarkeit ihres Songs auf deutsches Nörglertum auch aus Gummersbach oder Riesa kommen.

Die subjektive Objektivität, die jedem Menschen innewohnt, weckt allerdings bei den meisten, vielleicht nicht bei lastenfahrradfahrenden Volt-Wählerinnen, den Wunsch, Menschen erst mal skeptisch zu begegnen. Das Urvertrauen wird einem schon als Kind in irgendwelchen Bildungseinrichtungen – allein dieses Wort beschädigt Vertrauen – ausgetrieben. (Übrigens: Wenn etwas nicht beschädigt ist, ist es unbeschädigt und nicht unbeschadet – unbeschadet der Tatsache, dass immer mehr geistige SUV-Fahrer diesen Unterschied nicht kennen.) Als Kind also verliert man das Urvertrauen, wenn es blöd geht. Und als jungem Menschen begegnet einem dann die Liebe, gar die große. Wenn man Pech hat, stellt man fest, dass man der Liebe nicht gewachsen ist. Wenn man noch mehr Pech hat, tut die Liebe Dinge, die dazu beitragen, dass man die Distanz zu den Menschen noch einmal vergrößert. Ach, es ist so schwierig, Menschen zu mögen.

Was meint Taylor Goldsmith, der Songschreiber von Dawes, zu diesem Problem? „Ich möchte mich mit meinen Feinden zusammensetzen“, singt er in „Crack the Case“, und sagen: „we should have done this sooner“, wir hätten das mal eher machen sollen. Kalifornisch locker eben. Aber mit den Rechthabern, den Nörgeluschis oder gar dem AfD-Onkel sich zusammensetzen? Nee, danke. Dann lieber darauf trinken, mit wem man alles nicht mehr spricht.
Kurt Kister
Mail
SZPlus
Aus Ihrer SZ
Vertrauen ist besser
Die Welt mag aus den Fugen geraten sein, da möchte man doch wenigstens im Alltag noch die Kontrolle behalten. Wie gut, dass sich heute fast alles digital tracken, messen, erfassen lässt. Sie denken, das beruhigt die Nerven? Das Gegenteil ist der Fall.
Zum Artikel Pfeil
Updates zur US-Wahl
Erfahren Sie das Wichtigste zur Wahl im Newsletter.
Kostenlos anmelden
Empfehlung Empfehlen Sie diesen Newsletter weiter
Kontakt Schreiben Sie uns, wenn Sie mögen
Zur Startseite von SZ.de

Zur Übersichtsseite der SZ-Newsletter
Ihre Newsletter verwalten

Entdecken Sie unsere Apps:
as
gp
Folgen Sie uns hier:
tw
ig
fb
in
Impressum: Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München
Tel.: +49 89 2183-0, Fax: +49 89 2183 9777
Registergericht: AG München HRB 73315
Ust-Ident-Nr.: DE 811158310
Geschäftsführer: Dr. Christian Wegner (Vors.), Johannes Hauner, Dr. Karl Ulrich
Copyright © Süddeutsche Zeitung GmbH / Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH.
Hinweise zum Copyright
Sie erhalten den Newsletter an die E-Mail-Adresse newsletter@newslettercollector.com.
Wenn Sie den „Deutscher Alltag“-Newsletter nicht mehr erhalten möchten, können Sie sich hier abmelden.
Datenschutz | Kontakt