Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
es sind verstörende Bilder, die uns täglich die unerträgliche Situation am Flughafen in Kabul vor Augen führen: Wir sehen das Chaos und die Verzweiflung, fühlen die Ohnmacht und die Panik, hören die Schüsse, erfahren von Toten. Und das inmitten von weinenden Kindern und mitfühlenden, aber offenbar überforderten Soldaten. Wir sind weit weg vom Geschehen, aber – wegen der Wucht der Schreckensbilder – gefühlt doch ganz nah dabei.
Doch was wissen wir eigentlich tatsächlich? Die Emotionen sind gewaltig, die überprüfbaren Fakten sehr gering. Das beginnt schon mit den Bildern: Wer hat sie gedreht, wer hat sie bearbeitet, wer hat entschieden, was uns gezeigt werden soll – und was nicht? Quellenangaben (z.B. US-Armee oder Bundeswehr) gibt es nur ganz selten. Die Einordnung der Bilder, die Kommentierung der Lage (nicht nur) für das deutsche Fernsehen erfolgt in aller Regel durch Journalisten, die sich in Taschkent, Delhi oder Istanbul aufhalten. Und auch die Printkollegen sind weit weg. Dies ist kein Vorwurf, sondern lediglich eine Feststellung. Aber führt dennoch zur Frage: Sind wir wirklich ganz nah dabei? Stimmt das alles, was wir sehen, lesen und hören? Oder – noch nachdenkenswerter – was sehen, lesen und hören wir nicht?
“THE WORLD NEEDS JOURNALISTS” – das stand für alle sichtbar auf dem Shirt von Clarissa Ward. Diese mutige Kollegin blieb auch nach dem Sturm der Taliban in Kabul, berichtete mit ihrem Team unerschrocken über all das, was sich außerhalb des Flughafens ereignete. Ihre Bilder zeigten Straßenszenen, wo es praktisch keine Frauen mehr gab. Schaufenster, die von eventuell zu freizügigen Motiven “gereinigt” wurden. Einwohner, die aus Angst nicht mehr reden wollten. Alles kontrolliert von schwer bewaffneten Milizen der Taliban. Doch dann wurde es ihrem Haussender CNN zu gefährlich, er zog sie ab. Also verließ wohl die letzte Journalistin aus dem Westen das Land.
Und jetzt? Wir sehen in den “sozialen Netzwerken” Bilder von Demonstrationen gegen das Taliban-Regime, die beschossen werden. Und erfahren, dass es dabei Tote und Verletzte gab. Wir sehen Fotos von ersten Hinrichtungen. Und sehen, wie die neuen Machthaber ganze Häuserblocks durchsuchen, um Anhänger der abgelösten Regierung aufzuspüren. Oder Mitarbeiter der westlichen Streitkräfte. Wir hören von der Angst vieler Frauen, denen ihre Rechte genommen wurden. Oder von der Panik vieler Eltern, dass ihre Töchter entführt werden, um sie zwangsweise mit einem Taliban zu verheiraten. So gut wie nichts erfahren wir aber über die Lage außerhalb der Großstädte.
Gleichzeitig erzählen die Taliban, dass niemand Angst haben müsse, dass man keine Rache üben werde. Und einige Wohlfahrtsorganisationen berichten, dass sie bislang noch arbeiten dürften.
Ja, die Welt bräuchte nicht nur jetzt Journalisten, die vor Ort sind, die uns das Geschehen kompetent und seriös einordnen könnten, die uns das “ganze Bild” zeigen – ohne Gefahr für Leib und Leben. Aber das lässt das Terrorregime nicht zu. Und verhält sich damit genau so wie andere autoritäre Regierungen in vielen anderen Ländern. Getreu dem Motto: Journalisten sind immer dort unerwünscht, wo etwas vertuscht werden soll. Wo Korruption für die Herschenden selbstverständlich ist. Wo Menschen willkürlich verhaftet, gefoltert und auch getötet werden.
Und deshalb verdienen all jene Kollegen den allergrößten Respekt, ja unsere Bewunderung, die trotz all dieser Drohungen und der Todesangst weiterhin als Journalisten ihren Job in ihrem Land machen wollen – nämlich aufklären und informieren.
Solche einheimischen Kollegen gibt es auch (noch) in Afghanistan. Und deshalb wissen wir, was von den Beschwichtigungen der Taliban zu halten ist. So postet die in Afghanistan sehr bekannte Journalistin und Moderatorin Shabnam Khan Dawran, wie ihr der Zutritt zu ihrem Sender verwehrt wurde – mit der Begründung, es gäbe “ein neues System und die Regeln hätten sich geändert”. Jetzt sitzt sie zu Hause, fürchtet um ihr Leben und bittet die Welt um Hilfe. Für Toofan Omar, den Leiter des privaten Radiosenders Paktia Chag Radio, kommt diese Hilfe zu spät. Er wurde bereits ermordet. Ebenso wie der Angehörige eines Mitarbeiters der Deutschen Welle. Und wahrscheinlich noch weitere Kollegen, deren Namen wir noch nicht kennen.
Was wir ganz sicher wissen: Viele einheimische Mitarbeiter (auch) von deutschen Sendern und Verlagen fürchten um ihr und das Leben ihrer Familien. Sie flehen und bitten uns alle um Hilfe und Rettung. Wir dürfen das nicht überhören. Bei “Reporter ohne Grenzen” melden sich immer mehr Kollegen, die ihre dramatische Lage schildern. Die zu Recht jetzt Hilfe von denen erwarten, für die sie jahrelang gearbeitet haben. Erfreulich zumindest, dass diese Verlage und Sender in einem gemeinsamen Appell die Bundesregierung dringlichst um Unterstützung bitten. Doch ob das den Bedrohten hilft?
Und ausgerechnet jetzt meldet sich Alice Schwarzer mit einer zynisch anmutenden Forderung: Die Bundesregierung solle nur noch Kinder und Frauen als Flüchtlinge aufnehmen. Denn ansonsten werden sehr bald afghanische Terroristen bei uns sein. Offenbar ist ihr das Schicksal der männlichen Kollegen egal. Es gibt manchmal Momente, wo auch einem Journalisten die Worte fehlen. Aber ganz sicher nicht die Hoffnung, dass möglichst viele unserer Kollegen gerettet werden, ihnen die Flucht gelingt.
Es sind für uns alle aufwühlende Tage. Aber auch nachdenkliche. Denn uns sollte mal wieder bewusst sein, welche Privilegien wir hierzulande haben. Wir dürfen alle und alles kritisieren. Aber wir sollten uns alle auch der Verantwortung bewusst sein, die diese Freiheit eben auch von uns verlangt.
Und genau deshalb müssen wir auch darüber streiten, ob alle Medien sich dieser Verantwortung bewusst sind. Ob sie immer die Grenzen zwischen seriösem, faktenorientiertem Journalismus und der Hetze und Propaganda mit erfundenen Schlagzeilen und fehlerhaften, tendenziösen Texten beachten. Es dient unserer Glaubwürdigkeit, wenn wir offen und mit klaren Worten all jene auch in unserer Branche kritisieren, die diese Grenzen bewusst missachten, gar als lukratives Geschäftsmodell betrachten.
Zum Schluss noch etwas in eigener Sache: Dies ist heute der 200ste Newsletter. Wir wissen, dass viele – nicht nur die Mitglieder von netzwerk recherche – diese monatlich zusammengestellten Informationen über alles wichtige unserer Medienbranche schätzen. Für dieses Interesse – und die vielen positiven Rückmeldungen – möchten wir uns herzlich bedanken.
Und passend dazu noch ein Jubiläum: netzwerk recherche feiert in diesem Jahr Geburtstag. Uns gibt es jetzt seit 20 (turbulenten) Jahren. Wie wir das feiern, erfährt jeder Kollege, jede Kollegin demnächst auf unserer Homepage.
Es grüßen
Kuno Haberbusch,
Albrecht Ude