Odysseus im Weißen Haus

Liebe/r Leser/in,

das muss man erst mal bringen. Den mexikanischen Drogenboss El Mayo bekamen die US-Fahnder neulich frei Haus geliefert. Der Sohn eines anderen Kokskönigs hatte el Mayo zu einem Kurztrip per Privatjet eingeladen. Angeblich, um eine Immobilie zu besichtigen.
El Mayo war in die Maschine gestiegen, weil es ja nur eine harmlose Reise innerhalb Mexikos sein sollte. Und weil er dem jungen Freund, den er als seinen Ziehsohn betrachtete, nachdem dessen Vater an die USA ausgeliefert worden war, blind vertraute. Der aber arbeitete für die Drogenfahnder.
Er ließ seinen Jet über die Grenze fliegen und in den Vereinigten Staaten landen. Ein prachtvoller Verrat – und bei aller Kaltblütigkeit des Verräters ein Beispiel dafür, dass auch der Verratene eine entscheidende Rolle spielt. Ohne seine beinahe arrogante Arglosigkeit hätte die Falle niemals funktioniert.

Macht etwa der Verratene den Verrat erst möglich? Judas lieferte Jesus den Häschern aus. Der aber wusste es zuvor. Er floh nicht, er versteckte sich nicht, er wehrte sich nicht. Fast scheint es, er habe den drohenden Verrat nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu heraufbeschworen.
Viele Hundert Jahre vor der Nacht am Ölberg kehrte Odysseus nach beinahe endloser Irrfahrt, als Bettler verkleidet, in seinen Palast zurück. Niemand sollte ihn erkennen, damit die Freier, die das Haus besetzt hielten, nicht gewarnt würden.
Tatsächlich blieb Odysseus selbst von seiner Gemahlin Penelope unerkannt. Die alte Dienerin Eurykleia aber, die den Herrscher einst als Amme betreut hatte, wusch dem Bettler die Füße und erkannte auf dem Schenkel die Narbe, die vom Angriff eines Ebers auf das Kind Odysseus zeugte. Die Szene im Palast von Ithaka ist eine der frühesten Erzählungen über den Verrat. Sie berichtet davon, dass der Verratene sich selbst verrät.

Und was bitte haben ein Boss des mexikanischen Drogenkartells und ein Heimkehrer aus Troja mit Joe Biden zu tun? Natürlich nichts. Einen Moment, vielleicht doch etwas.
Auch Joe Biden fühlt sich verraten. Von seinen engsten Vertrauten, die ihn fallen gelassen haben. Die durchsteckten, wie hinfällig und gebrechlich der Mann im Weißen Haus wirklich ist. Wie sehr er auf Hilfe angewiesen ist. Wie unwahrscheinlich es ist, dass er den Belastungen eines Wahlkampfs oder gar einer zweiten Präsidentschaft gewachsen ist.
Biden soll noch immer davon überzeugt sein, dass er es mit Trump hätte aufnehmen können. Einzig der Verrat habe ihn zur Aufgabe gezwungen. Dabei war es Biden selbst, der im TV-Duell mit Trump der eigenen Partei, den Wählern und der Welt seinen Zustand offenbarte.

Jetzt küren die Demokraten auf ihrem Konvent in Chicago Kamala Harris offiziell zur Präsidentschaftskandidatin. Es kann sein, dass sie sich gegen Trump durchsetzt. Es kann sein, dass sie als erste Frau ins Weiße Haus einzieht. Joe Biden hat ihr diese Chance gegeben.
Weil er sich selbst verraten hat.

Mit vielen Grüßen

Markus Krischer,
stellvertretender Chefredakteur FOCUS Magazin

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