Newsletter, 13.09.2019 Psychotherapie: Die systemische Therapie ist jetzt als Behandlungsverfahren anerkannt – der Psychologe Dr. Ralf Dohrenbusch zum Thema |
Dr. Ralf Dohrenbusch ist Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz des Instituts für Psychologie der Universität Bonn und Autor des Ratgebers „Psychotherapie. Chancen erkennen und mitgestalten“.
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In der Psychotherapie gibt es verschiedene Behandlungsverfahren, zum Beispiel die Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Verfahren oder humanistische Therapieansätze. Im vergangenen Jahr wurde die systemische Therapie als weitere Therapieform anerkannt. Was bedeutet das für Menschen mit einer psychischen Störung oder Erkrankung? Wie können sie davon profitieren?
Herr Dohrenbusch, Ende letzten Jahres wurde der Nutzen der systemischen Therapie im psychotherapeutischen Versorgungssystem anerkannt. Wie kam es dazu? Die Vertreter der systemischen Therapie strebten dies schon länger an. Grundsätzlich dürfen in der Krankenversorgung nur Behandlungen durchgeführt werden, deren Wirksamkeit durch wissenschaftliche Studien belegt ist. Bis 2010 war die Datenlage aber zu schwach, um den Nutzen unterschiedlicher systemischer Therapien wissenschaftlich zu belegen. Jetzt wurde die Wirksamkeit systemischer Therapien durch den Gemeinsamen Bundesausschuss bestätigt, allerdings nur für bestimmte psychische Störungen.
Welche Störungen können behandelt werden? Die Wirksamkeit der systemischen Therapie ist nachgewiesen für Angst- und Zwangsstörungen, für depressive Störungen und eine andauernde depressive Stimmungslage, außerdem für Störungen durch Substanzen, die die Psyche beeinflussen, wie zum Beispiel Alkohol- oder Drogenmissbrauch, für Essstörungen und für psychotische Störungen wie beispielsweise Schizophrenie. Das bedeutet nicht, dass die Wirksamkeit bei anderen psychischen Störungen nicht gegeben ist. Sie ist bislang nur nicht ausreichend wissenschaftlich belegt.
Wie ist der Blick der systemischen Therapie auf psychische Störungen? Vertreter der systemischen Therapie gehen davon aus, dass psychische Störungen wesentlich aus dem sozialen Kontext heraus zu verstehen sind, in dem sie auftreten. Ausgangspunkte sind auch in der systemischen Therapie die Beschwerden der Betroffenen, also z.B. bei einer depressiven Störung Symptome wie Antriebslosigkeit und gedrückte Stimmung. Die systemische Therapie betont aber, dass das mit Symptomen verbundene Verhalten – das sogenannte „Symptomverhalten“ – durch das Verhalten anderer Personen ausgelöst oder aufrechterhalten wird. Entscheidend ist aus systemischer Sicht, welche Wirkung bzw. Funktion das Symptomverhalten des Patienten im Umgang mit anderen Menschen aus seiner Umgebung hat.
Was erwartet Patienten in einer systemischen Therapie? Behandlungsschwerpunkte liegen in der Veränderung der Art und Weise, wie Personen miteinander umgehen, die am Symptomverhalten beteiligt sind und dieses durch ihr Verhalten mitbestimmen. Dazu können z.B. Familienmitglieder oder andere Personen aus dem Umfeld des Patienten in die Therapie einbezogen werden. Diagnostische Maßnahmen zielen darauf, die Beziehungen zwischen den Beteiligten genauer zu beschreiben und wechselseitige Wirkungen ihres Verhaltens zu erkennen. Praktisch richtet sich systemische Therapie darauf aus, die besonderen Wirkungen des Symptomverhaltens auf andere Personen und umgekehrt die Wirkungen anderer Personen auf das Symptomverhalten zu erkennen und diese gezielt zu beeinflussen. Ziel der Therapie ist es, dass das Symptomverhalten für die Gestaltung der sozialen Beziehungen des Patienten irgendwann unwichtig oder überflüssig wird. Eine Idee ist auch, dass der Patient sein Symptomverhalten leichter ändern kann, wenn alle Beteiligten ihr Verhalten ebenfalls ändern.
Hat die Neuerung auch Auswirkungen auf das therapeutische Vorgehen in anderen Therapieverfahren? Streng genommen nicht. Durch die Anerkennung der systemischen Therapie wurde aber das systemische Denken, also die besondere Beachtung der wechselseitigen Wirkungen des Verhaltens, auch bei anderen Therapierichtungen aufgewertet. In der Therapiepraxis ist systemisches Denken schon lange verbreitet, auch bei Verhaltenstherapeuten und Tiefenpsychologen. Alle Therapeuten gehen – mehr oder weniger – davon aus, dass Symptomverhalten auch davon bestimmt ist, wie andere Menschen darauf reagieren. Das betrifft nicht nur das Verhalten der Patienten im Alltag, sondern auch das Verhalten in der Therapiesituation. Die mit der Anerkennung systemischer Therapien verbundene Aufwertung systemischen Denkens kann insofern auch helfen, Prozesse in einer Therapie und damit auch die Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten besser zu verstehen.
Was bedeutet die Aufwertung systemischen Denkens für Patienten? Vielleicht werden Patienten – unabhängig von der Behandlungsmethode, die sie in Anspruch nehmen – angeregt, sich intensiver mit den Wirkungen ihres Verhaltens auf Andere zu beschäftigen. Es ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch betroffene Patienten ihre Störung im Zusammenhang mit ihren sozialen Beziehungen sehen und verstehen lernen. Mancher fühlt sich vielleicht veranlasst, darüber nachzudenken oder zu erforschen, welche Wirkung sein Verhalten auf Andere hat und wie umgekehrt deren Verhalten das eigene Verhalten oder die Symptomatik beeinflusst. Solche Kenntnisse kann man sich allerdings auch ohne therapeutische Hilfe aneignen.
Gibt es dazu praktische Hilfen? Es gibt Bücher oder andere Literatur über systemische Therapie, über Kommunikation und zur Beurteilung von Verhaltenswirkungen. Man muss aber als Patient mit psychischen Problemen auch kein Kommunikationsexperte sein und auch nicht alle theoretischen Hintergründe kennen. Es kann aber helfen, sich klar zu machen, nach welchen Regeln Kommunikation funktioniert und wie man von der Kommunikation mit anderen Menschen profitieren kann. Besser gesagt: wie beide Seiten davon profitieren können. In diesem Sinne wurde auch der Ratgeber der Verbraucherzentrale in der letzten Auflage erweitert: mit Hinweisen, wie Patienten möglichst wirksam mit ihren Therapeuten kommunizieren können, woran sie z.B. förderliches und weniger förderliches Therapeutenverhalten erkennen und wie sie darauf reagieren können. Dieses Wissen kann den Therapieprozess sicherlich fördern. Soviel ich weiß, existieren bislang neben dem Buch „Psychotherapie. Chancen erkennen und mitgestalten“ kaum Ratgeber, die so klar darauf ausgerichtet sind, die kommunikativen Fähigkeiten der Patienten innerhalb der Therapie zu stärken. Eben das ist aber notwendig, um therapeutische Angebote – auch im Sinne des Verbraucherschutzes – wirksam nutzen können.
Die Mitgestaltung des Patienten bei der Therapie spielt in Ihrem Buch ja überhaupt eine große Rolle. Warum ist das so wichtig und welche Chancen liegen darin? Psychotherapie lebt stärker als andere Behandlungsmethoden davon, dass die Chemie zwischen den Beteiligten stimmt, man sich also z.B. gegenseitig vertraut, ernst nimmt, einander zuhört, vielleicht auch Konflikte austrägt. Für jede Patientin und jeden Patienten mit seinem Therapeuten oder seiner Therapeutin ist eine Behandlung immer auch ein Experiment mit nicht ganz sicherem Ausgang. Beide begeben sich auf neues Terrain, in dem sie sich vielleicht auch unsicher fühlen. Da ist es sinnvoll, wenn auch beide mit den geltenden Bedingungen und Regeln möglichst vertraut sind. Dabei sollten die Patienten die Souveränität bzw. Kompetenz ihrer Therapeuten auch nicht überschätzen. Therapeuten können sich mehr oder weniger geschickt oder wirksam verhalten. Vermutlich wissen einige nicht immer so ganz genau, was sie sagen oder tun müssen, um ihren Patienten optimal zu helfen. Psychotherapie ist eben ein Gemeinschaftsprojekt, nicht genau vorhersehbar, eine Kooperation, ein Austausch, an dessen Erfolg immer beide, also Patient und Therapeut, beteiligt sind. Daher sollten nicht nur Therapeuten, sondern auch Patienten eine Vorstellung davon haben, wie ihnen ihr Gegenüber helfen kann, welches Vorgehen, vor allem aber welches Therapeutenverhalten ihnen wahrscheinlich nützen wird. Letztlich muss sich jeder Patient einer Psychotherapie der Frage stellen, wie er die Angebote nutzen will. Deshalb nehmen die Hinweise dazu im Ratgeber auch relativ viel Raum ein.
Wie erkennt man unseriöse Angebote bei systemischen Therapeuten? Unseriöse systemische Therapeuten können wie auch andere problematische Anbieter von Psychotherapie darauf bedacht sein, einen schnellen und intensiven Kontakt zu ihren Patienten herzustellen. Typischerweise bauen sie unrealistisch hohe Erfolgserwartungen auf, und sie versuchen, ihre Patienten eng emotional an sich zu binden. Häufig arbeiten sie suggestiv, direktiv und manipulativ, um die Abhängigkeit ihrer Patienten von sich und ihren „therapeutischen“ Maßnahmen zu erhöhen. Solche „Therapeuten“ tragen eher zur Verunsicherung und Schwächung ihrer Kunden bei, insbesondere dann, wenn sie es ihnen erschweren, eigene Entscheidungen zu treffen und sich aus eigener Kraft für oder gegen ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden. Z.B. sind systemische Familienaufstellungen, in denen die schwierigen familiären Beziehungen eines Patienten mit einer Gruppe inszeniert werden, dann problematisch und nicht zu empfehlen, wenn sie die Überforderung, Schwächung oder Selbstabwertung der Patienten verstärken. Die Kunst auch einer systemischen Therapie besteht immer darin, schwierige und belastende Erfahrungen sorgfältig auf vorhandene Bewältigungsfähigkeiten des Einzelnen abzustimmen und eine psychische Überforderung des Patienten zu verhindern.
Gibt es seit Änderung der Psychotherapierichtlinie im April 2017 noch weitere Neuerungen? Seit der letzten Änderung haben die niedergelassenen Psychotherapeuten psychotherapeutische Sprechstunden einrichten müssen, in denen vorab geklärt wird, ob ein Behandlungsbedarf besteht. Auch kürzere Behandlungen werden seitdem in größerer Zahl angeboten und durchgeführt. Ob die Maßnahmen geeignete Mittel sind, um die psychotherapeutische Versorgung zu verbessern, dazu liegen meines Wissens bislang noch keine verlässlichen Daten vor. Außerdem wurde die Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung in der letzten Änderung in die Psychotherapierichtlinien integriert, d.h. auch diese Gruppe hat einen gesetzlichen Anspruch auf psychotherapeutische Behandlung, sofern die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.
Lieber Herr Dr. Dohrenbusch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. |
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