Liebe Leserin, Lieber Leser,
hatten Sie zuletzt auch den Eindruck, dass unsere Ära alter Gewissheiten gerade ihrem Ende entgegentaumelt? Willkommen in der harten Wirklichkeit! Denn die Einzigen, die viele Entwicklungen nicht wahrhaben wollten, waren wir Deutschen. Vor allem jene von uns, die noch in der muggeligen Bonner Republik aufwachsen durften.
Dieses Deutschland ähnelt heute einem 80-er-Jahre-Freizeitpark von baufälligem Fachwerk-Kitsch bis Jever-Fun-Bräsigkeit, auch wenn ich zugebe: Es kommt gerade dicke, was die Gleichzeitigkeit der historischen Umbrüche angeht.
Der US-Präsident stellt das transatlantische Bündnis zur Disposition. China läuft uns ökonomisch den Rang ab. Und das billige Gas aus Russland wollen wir ja nicht mehr, seit Putin die Ukraine überfiel und nun ein obendrein desolates Europa bedroht. Und dann schnürt ausgerechnet die sonst nicht zu Ausgabenexzessen neigende Union ein Billionen-Euro-Schuldenpaket?
„Das Ende der Geschichte“, wie es nach dem Zusammenbruch des Ostblocks der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 prophezeite, war schon damals eine Schimäre. Aber sie begleitete uns wie ein Maskottchen für unsere Art, die Welt zu sehen: Alle haben sich lieb, schäumen den Cappu mit Hafermilch, fliegen dreimal im Jahr in Urlaub und schämen sich ein bisschen wegen des Klimawandels. Den Rest regeln Bundesgesetze und Kinofilme von Karoline Herfurth.
So weit der Selbstbetrug Made in Germany. Wir wollten die Welt mit ihren dauernden Überraschungen und Anmaßungen nicht akzeptieren, wussten im Nachhinein aber alles vorher. Dabei hätten wir sehen können, was auf uns zukommt. Schon was wir eher schulterzuckend als „Mauerfall“ wahrnahmen, bedeutete für 18 Millionen Deutsche ja einst den Zusammenbruch ihrer Ordnung. Unser Dankeschön: Soli und ein Feiertag. Heute wundern wir uns, dass die AfD alle neuen Bundesländer im Griff hat.
Hat uns alles nicht sehr interessiert, was die da „drüben“ für Probleme hatten. Selbst die blutigen Bürgerkriege im nahen Jugoslawien haben wir eher ignoriert. Erst als Putin auf Kiew zumarschierte, hieß es erschrocken: „Oh Gott, Krieg in Europa!“ Die Ausnahmen, quasi die Geisterfahrer der Geopolitik, das waren nicht die anderen, sondern wir. |