| | | | | 22. Dezember 2023 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | im September gab es ein bemerkenswertes Ereignis. Bevor wir allerdings zu diesem Ereignis kommen, erst eineinhalb Gedanken zum Wort âbemerkenswertâ. Es ist eines jener vielen Adjektive, die man benutzt, um subjektive Empfindungen objektiv erscheinen zu lassen. Was der eine für bemerkenswert hält, nimmt die andere nicht einmal wahr. Wenn zum Beispiel das Trio infernal der Ampel, also Scholz, Habeck und Lindner, den Bauern Subventionen streichen will, findet das der Bauer als solcher bemerkenswert grässlich, der Düsseldorfer Designer dagegen bemerkenswert uninteressant. Trio infernal ist für die drei vielleicht zu hoch gegriffen. Das echte Trio infernal aus dem gleichnamigen Francis-Girod-Film von 1974 waren Romy Schneider, Michel Piccoli und Mascha Gonska. Scholz hat von Romy Schneider ungefähr so viel wie Gérard Depardieu von Sahra Wagenknecht. Bemerkenswert wenig. Und nun zum Ereignis: Am 11. September dieses Jahres stand die Band Talking Heads (TH) zum ersten Mal seit deutlich mehr als dreiÃig Jahren wieder gemeinsam auf einer Bühne. Sie machte zwar keine Musik, und die drei Männer und eine Frau waren nur zum Filmfestival nach Toronto gekommen, um bei der Präsentation einer gründlichen Neubearbeitung des 40 Jahre alten Talking-Heads-Konzertfilms âStop Making Senseâ dabei zu sein. TH war Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger kurze Zeit berühmt (âPsycho Killerâ 1977), fiel aber dann auseinander, weil die soziale Verträglichkeit des mindestens halb genialischen TH-Kopfs David Byrne mit der Zeit deutlich abnahm. Der Streit in der Band war so garstig und grundsätzlich, dass selbst die musiklose Reunion in Toronto für TH-Interessierte bemerkenswert war. Mir fiel die TH-Geschichte dieser Tage ein, weil einer, dessen soziale Verträglichkeit selbst von Freunden, gar Parteifreunden auch sehr unterschiedlich eingeschätzt wurde, seinen Abschied ankündigte. Jürgen Trittin, der im Juli 70 wird, wird am 1. Januar sein Bundestagsmandat niederlegen. Auf die Frage, was er in Zukunft vorhabe, sagte Trittin, er wolle âein bisschen reisen, Clash und Talking Heads hörenâ. Das mit dem Reisen glaube ich ja gern. Aber das mit TH und Clash hören, erscheint mir sonderbar: TH hat acht Studioalben rausgebracht, bei Clash, die von 1976 bis 1985 existierten, waren es nur sechs. Klar, man kann âLondon Callingâ oder âDonât worry about the governmentâ immer wieder mal hören. Aber irgendwann hat man als Rentner selbst von âL.A. Womanâ genug, und das war von den Doors (sechs Studio-LPs), die ungefähr so bedeutend sind wie TH und Clash zusammen (das ist eine sehr subjektive Bewertung, bitte keine Lesermails, um mir das Gegenteil zu beweisen). Trittin habe ich irgendwann in den Neunzigern in Bonn kennengelernt, wo er nach einem Gespräch mit der seligen Bettina Gaus und mir in einer dieser seltsamen Bonner Politkneipen zu dem Schluss kam, wie mir Bettina Gaus hinterher sagte, dass ich wohl keine linke Tradition hätte. Da ist, trittinmäÃig gesehen, viel dran, nicht nur weil Trittin ungefähr in dem Alter, in dem ich bei der Bundeswehr war, dem Kommunistischen Bund an der Uni Göttingen angehörte. Trotzdem hat sich Trittin um das Land verdient gemacht. Doch, das hat er, weil er ein umtriebiger und erfolgreicher Umweltminister in den Jahren von Rot-Grün war. Unter seiner Verantwortung wurden Dinge eingeführt, die heute selbstverständlich sind (das Dosenpfand zum Beispiel). Und mit seiner Penetranz sorgte er auch dafür, dass der Atomausstieg in die Wege geleitet wurde, den dann ausgerechnet Angela Merkel in einer Panikreaktion nach Fukushima endgültig aufs Gleis schob. Der nicht unarrogante Grünen-Linke war zwar eine ständige Prüfung für den noch weniger unarroganten Grünen-Realo Joschka Fischer. Allerdings hielt diese Talking-Heads-Formation besser zusammen als die gleichnamige Band, obwohl sich bei den Grünen nicht nur Trittin und Fischer, sondern mindestens auch noch drei andere Damen und Herren für den wirklichen David Byrne der Grünen hielten. Dem damaligen Kanzler Schröder war das wurscht, weil er die Talking Heads, hätte er sie denn gekannt, maximal für eine Vorband der Scorpions aus Hannover gehalten hätte. Etwas melancholisch stimmt mich Trittins Abschied dann doch. Nicht weil er ein âUrgestein der Grünenâ wäre, wie ich neulich in der SZ las. (âUrgesteinâ, âIkoneâ und ähnliche unbemerkenswerte Alltagsphrasen waren mal verboten in der SZ. Früher.) Aber: Je älter man wird, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Andererseits ist es auch gut, dass die Bidenisierung der hiesigen Politik nicht so drastisch voranschreitet. Und weil wir gerade Weihnachten haben: Alle die, die immer wieder mal darüber räsonieren, dass die Jüngeren nicht mehr rechnen, schreiben oder gescheit regieren können, mögen bedenken, was Jesus als Mittzwanziger und AnfangdreiÃiger alles getan und gesagt hat. Ein junger Mann. Ja, ja, weià schon, er war der Sohn Gottes. Aber ich habe im Laufe der Jahre viele Politiker, Journalisten und Wirtschaftschefs (m/w/d) kennengelernt, unter denen auch einige waren, von denen ich den Eindruck hatte, sie fänden es nicht unpassend, wenn ihnen gelegentlich drei Weise aus dem Morgen- oder Abendland Geschenke brächten. Ich wünsche Jürgen Trittin, allen Bauern sowie natürlich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, bemerkenswert schöne Weihnachten. | |
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| | | | | | | | | | "Ich gebe praktisch allem eine Chance" | | Kaum ein Musiker tanzt auf so vielen Hochzeiten wie David Byrne. Im Interview spricht er über den Klang eines Fabrikgebäudes, Mozart als Waffe und die groÃe Frage, was Musik bedeuten kann. | | | |
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