Liebe/r Leser/in, bis ich 14 Jahre alt war, schien in meinem Leben so ziemlich alles klar vorgezeichnet: keine Zulassung zum Abitur, statt Studium eine Handwerkerlehre und mit viel Glück ein Wartburg mit 21, der viele Jahre zuvor schon beantragt wurde. Ein Leben in Grenzen, ohne große Not, aber auch ohne Freiheit. Mein Traum, Journalist zu werden, das wusste ich, würde niemals in Erfüllung gehen. Während ich heute, 30 Jahre später, diese Zeilen schreibe, schaue ich aus meinem Büro auf den Potsdamer Platz, damals noch die Todesstreifenbrache im geteilten Berlin. Ich darf denken und sagen, was ich will, ohne im Gefängnis zu landen. Welch ein Wert! Mein 9. November 1989 ist ein Tag, der niemals endet. So viel Glück, so viel Geschichte passen nicht in 24 Stunden. Eine alte Welt ging unter, eine neue Welt auf. Der Tag veränderte das Leben von Millionen Menschen – und auch das meiner Familie, wenngleich wir das am Abend dieses 9. November nicht ahnen konnten. „Vati, die öffnen die Mauer“, rief ich in die Küche, als der SED-Mann Günter Schabowski die neuen Reiseregelungen für DDR-Bürger herausstammelte und meine Eltern gerade das Abendbrot vorbereiteten. Ein Satz dieses Abends, den ich nie vergessen werde, war dieser: „Och, Robbi, lass erst mal die anderen rüber, die machen die Grenze eh nicht mehr dicht“, antwortete mein Vater sanft und glückselig, als ich darauf drängte, sofort nach Berlin zu fahren. Der nüchterne Sachse hatte das Ende der maroden DDR schon Monate zuvor prophezeit; meine Eltern und ich hatten auf den Leipziger Montagsdemos auch für diesen Tag demonstriert. Der 9. November 1989 war ein Geschenk. Mein Vater wurde Unternehmer, meine herzensgute Mutter blieb mit Freude Kindergärtnerin, endlich ohne staatliche Gängelung. Und ich durfte Abitur machen, Journalist werden – einen Tag nach dem Abi startete ich in einer Zeitungsredaktion. Ich denke sehr oft mit Dankbarbeit und Demut an den Tag des Mauerfalls: wenn ich etwa meinem Sohn in die Augen schaue – ein Kind der Einheit, weil Mama West. Oder wenn ich morgens auf dem Weg in die Redaktion durchs Brandenburger Tor spaziere. Auch auf der A 9 werde ich sentimental, immer auf Höhe der Raststätte Frankenwald. Nein, diese Freiheit ist nicht selbstverständlich! Gerade in Berlin, wo an jeder Ecke jeden Tag ein Stein an das Gestern erinnert, vibriert dieses deutsche Märchen. In dieser Woche natürlich ganz besonders. Am Montag ehrte der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger am Gendarmenmarkt die Organisation Reporter ohne Grenzen und den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble mit der Goldenen Victoria. Es sei leicht, für Freiheitsrechte einzutreten, wenn man immer in Freiheit aufgewachsen sei, sagte Schäuble in seiner Dankesrede. Freiheit sei der Kern der deutschen Frage: „Wir sollten alles dafür tun, Freiheit und Demokratie nicht wieder zu verlieren.“ Schäuble hat so Recht. Die Gefährdung der freien Meinungsbildung war lange nicht mehr so akut wie heute. Presse- und Meinungsfreiheit sind selbst in Europa keine Selbstverständlichkeit mehr. Deshalb startete Hubert Burda Media, das Unternehmen, zu dem FOCUS gehört, am Montag eine Kampagne für Verlagsjournalismus: „... Print macht stark“.
Am Dienstag in Berlin: Ich bin Laudator auf einer Preisverleihung im „Soho House“. Bis 1989 saß in dem Gebäude nahe dem Alexanderplatz das Zentralkomitee der SED, heute steigt hier der Jetset ab. Was für ein Witz. Mittwoch: In der Mittagspause fällt mir auf, dass ich mehrfach die Sektorengrenze übertrete – Pflastersteine im Asphalt zeichnen den Verlauf der ehemaligen Berliner Mauer nach. Donnerstag: Der wunderbare Künstler Norbert Bisky zeigt seine neuen Ausstellungen in Berlin und in der Potsdamer Villa Schöningen, die an der Glienicker Brücke steht. Ein Ort der Kunst, einst tauschten hier Ost und West Agenten aus. Freitag: Ein Freund, der zu DDR-Zeiten sein erstes Geld mit dem Verkauf von „Bravo“-Postern verdiente und nach der Wende Multimillionär wurde, lädt ein zu „Rotwein aus dem Jahr 1989 – auf eine bewegende Nacht vor 30 Jahren“. Wenn Sie dieses Editorial regelmäßig lesen, wissen Sie, dass ich mich an dieser Stelle schon oft über die Hauptstadt und den rot-rot-grünen Senat aufgeregt habe, zuletzt, als die Politiker in einem neosozialistischen Rausch das Immobilieneigentum der Bürger infrage stellten. Und doch liebe ich diese aufregende Stadt, neben Leipzig, meiner Heimat (was die Städte kurioserweise verbindet: Seite 145). „Berlin, Berlin, big city of dreams“, heißt es in einem Song. Es wäre auch eine passende Überschrift für unsere Titelgeschichte gewesen, in der Menschen, die die Stadt in den letzten 30 Jahren bewegt haben, die Story eben dieser Weltstadt erzählen. Sie schauen auf Berlin, das als Sehnsuchts- und Freiheitsort strahlt. Korea ist noch geteilt, ebenso Zypern – lassen Sie uns in diesen Tagen Berlin und die friedliche Revolution von 1989 feiern. Lassen Sie uns Mauern einreißen. |