| Guten Morgen, kleine Zeitreise gefällig? Es ist der 26. September 2021, 6 Uhr. Sie schlafen vermutlich noch, denn es ist ein Sonntag. Großer Wahltag in Berlin. Vier Abstimmungen stehen an und ein Marathon. Marc Albrecht, Wahlamtsleiter in Pankow, schließt sein Büro im zweiten Stock des Rathauses auf. Noch sind die Flure leer, nur der Wachschutz ist da. Hallo! Guten Morgen! Das ist seine Schaltzentrale. Ab 8 Uhr werden in Pankow bis zu 236.000 Wahlberechtigte erwartet. 6.20 Uhr, einen Kilometer südlich. Wahlvorständin Birgit Walter schnürt ihre Laufschuhe, packt Tesafilm ein und einige Kugelschreiber. Kann man nie genug von haben. Sie macht sich auf den Weg in ihr Wahllokal im Pankower Carl-von-Ossietzky-Gymnasium. 8 Uhr, Wahlbeginn. Der kritische Punkt, das weiß Albrecht. Aus seiner Sicht läuft es gut an. Sie hatten sich mehr als ein Jahr lang sorgsam auf diesen Tag vorbereitet: ein riesiger Logistikapparat mit Tausenden Helfern, der mit wenigen Leuten zu koordinieren ist. Albrecht hat große Stimmbezirke verkleinert und ihre Anzahl vergrößert. Auch deshalb gibt es deutlich mehr Wahlhelfer als sonst. 8.30 Uhr. Die Menschen im Ossietzky-Gymnasium sind viel zu lange in den Wahlkabinen, einige brauchen zehn Minuten für die vielen Kreuze. Wartezeit: 45 Minuten. 8.55 Uhr. Ein anderes Wahllokal im Ossietzky-Gymnasium meldet: „Wähler wurde fälschlicherweise in Wahllokal 323 geschickt – vom benachbarten Wahllokal 315. Wähler hat Stimmzettel ausgefüllt, danach aufgeklärt über Irrtum. Ergebnis: Wähler geriet in Rage, zerriss Stimmzettel und verließ das Wahllokal ohne Stimmabgabe.“ So steht es in einer Mitschrift des Wahlvorstandes. 11 Uhr. Neue Hinweise laufen im Rathaus ein: Hygienevorschriften werden nicht befolgt, Schlangen werden immer länger. Albrecht wundert das nicht. Die Schlangen wirken länger, weil anderthalb Meter Abstand gehalten werden müssen, denkt er. 12 Uhr. Birgit Walter gibt erstmals die Wahlbeteiligung durch, sie liegt in Pankow bei 27,1 Prozent. Die Landeswahlleitung meldet per Pressemitteilung: „Die Wahl in den 2257 Berliner Wahllokalen verläuft bisher ruhig.“ Bei Walter ist es mit der Ruhe längst vorbei. Ihre Wahlhelfer können kaum Pause machen, weil sie als Ordner gebraucht werden. Gegen 13.30 Uhr. In einigen der acht anderen Wahllokale im Ossietzky-Gymnasium gehen die Wahlzettel aus. Walter wird um Stimmzettel gebeten. Sie lehnt ab. Die Wahlbeteiligung ist in ihrem Lokal bislang noch nicht sonderlich hoch, die Stimmzettel könnten auch ihr ausgehen. Vorsichtshalber ruft sie im Rathaus Pankow an und bittet um Nachschub. Dort klingelt das Telefon inzwischen minütlich. Mehr Stimmzettel, mehr Stimmzettel, mehr Stimmzettel. Und viele lange Warteschlangen. Albrecht geht noch von Einzelfällen aus. Er schickt Kuriere los, sie sollen Stimmzettel ausliefern. Er ahnt langsam: Das wird kein normaler Wahltag … Wir beenden diese kleine Zeitreise. Weitergewählt wurde in Pankow noch bis 20.57 Uhr, erst um 6 Uhr morgens waren alle Stimmen ausgezählt. Morgen wird die chaotische Berlin-Wahl wegen dieser und anderer Absonderlichkeiten vor dem Landesverfassungsgericht verhandelt. Meine Kollegin Anna Thewalt und ich haben das zum Anlass genommen, tief hineinzukriechen in diesen womöglich schicksalshaften Tag für Berlin. Abonnenten lesen die ausführliche Rekonstruktion aus Sicht Beteiligter und Verantwortlicher hier. Darin erfahren Sie auch, was ein Berliner Wahlamtsleiter mit einem Techno-DJ gemein haben kann. Keine Sorge: Es sind nicht die klingelnden Ohren. Uns interessiert Ihre Meinung dazu sehr! Was halten Sie für richtig: Muss die Wahl wiederholt werden? Komplett? Teilweise? Oder gar nicht? Stimmen Sie hier ab. | |