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Wochenende Kurzstrecke |
Tagesspiegel Checkpoint vom Samstag, 02.10.2021 | Heiter bis wochenendig bei bis zu 21°C. | ||
+ Opposition warnte früh vor Wahlpannen + Erste Sondierungsgespräche in Berlin + Das sind die Berlinerinnen und Berliner der Woche + |
von Lorenz Maroldt |
Wir, wir, wir … wer damit wohl gemeint ist? Etwa die Innenverwaltung, deren Senator Andreas Geisel jetzt, nach der chaotischen Wahl, so tut, als habe er damit rein gar nichts zu tun? Schlimmer noch ist allerdings, dass eine schonungslose Aufklärung der Vorfälle von dieser Stelle kaum zu erwarten ist – im Senat verkündete Geisel am Dienstag, was er von den Berichten über chaotische Zustände bei den Wahlen in Berlin hält: medial aufgebauscht. Vielleicht sollte der Innensenator mal einen Blick in unsere Checkpoint-Mailbox werfen – da reißt der Strom von Berichten frustrierter Wahlhelfer/innen und Vorständen über verfälschende Vorfälle nicht ab. Für einzelne Phänomene wie Wahlbeteiligungen über 150 Prozent mag es Erklärungen geben (wenn auch keine guten), die schiere Menge an Fehlern und Fahrlässigkeit lässt aber keinen Raum für politische Abschätzigkeit. Alle Betroffenen, also Wählerinnen, Wahlhelfer und Kandidierende, hätten statt Unzuständigkeitserklärungen eine deutliche Entschuldigung verdient. | |||||
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Stattdessen schreibt der Sprecher von Geisel: „Weil jetzt einige versuchen, den Berliner Innensenator für die Wahlpannen verantwortlich zu machen. Was wäre das für ein Land, in dem die Regierung über die Durchführung von Wahlen, die Gültigkeit von Stimmzetteln und Wahlergebnissen entscheiden würde?“ Wäre es nicht so ernst, man müsste lachen über den verzweifelten Ablenkungsversuch. Niemand will oder erwartet, dass die Regierung über Wahlergebnisse entscheidet. Gegenfrage, weil jetzt einige versuchen, sich aus der Verantwortung zu ziehen: Was wäre das für ein Land, in dem die Regierung die ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen sicherstellt? Heißer Tipp: Berlin ist es nicht. | |||||
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Dabei hatte vorab sogar der Bundeswahlleiter auf möglichen Betrug in Berlin hingewiesen – dennoch konnten unter 18-Jährige und EU-Bürger, die nur die BVV mitwählen dürfen, wegen mehrerer Pannen auch über den Bundestag und das Abgeordnetenaus mitentscheiden. Ihre Stimmen sind nachträglich nicht mehr zu destillieren. Politisch mag man die dreifache Wahlberechtigung für wünschenswert halten; aber ohne Rechtsgrundlage gibt es keine Gleichheit der Wahl. | |||||
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Wie chaotisch alles organisiert war, zeigt beispielhaft der Bericht eines Wahlhelfers aus Charlottenburg-Wilmersdorf an den Checkpoint, den wir hier gekürzt dokumentieren (etliche weitere Berichte fielen ähnlich aus): „Ich hatte mich vor Monaten als Wahlhelfer gemeldet. Da sich das Wahlamt bis zur Woche vor dem 26.9. nicht bei mir gemeldet hatte, versuchte ich nachzufragen – doch am Telefon war niemand erreichbar, auf Mails gab es keine Antwort.“ „Einen Tag vor der Wahl erhielt ich einen Anruf: Gerne würde man mich als stellvertretenden Wahlvorsitzenden in einem Briefwahllokal einsetzen. Auf meinen Hinweis, dass ich jetzt andere Pläne hätte (es war der Geburtstag meiner Frau), sagte man mir, ich könne zwar widersprechen, sei aber jetzt zur Hilfe verpflichtet.“ „Am Morgen des Wahltags bekam ich per Mail eine Kurzschulung. Um 14 Uhr kam ich am Wahllokal Messe/ICC an, reihte mich in eine lange Schlange ein und war um 15 Uhr drin.“ „Als ich an meinen Wahltisch kam, saßen dort die anderen Helfer und warteten, die Wahlunterlagen und Wahlurne holen zu dürfen. Der Wahlvorsteher war nicht erschienen, die anderen sagten: Gut, dass Sie da sind, dann könnten wir ja anfangen.“ „Ich war also auf einmal Wahlvorsteher. Ohne Schulung, mit einer kleinen PDF-Präsentation, die ich wenige Stunden vorher erhalten hatte. Das Heft mit Anweisungen für Wahlvorsteher war nicht zu finden. Ich fragte die Wahlvorsteherin am Nebentisch, was wir jetzt tun sollten, und wir wurstelten uns irgendwie durch.“ „Im Laufe der Auszählung gab es immer mehr Unklarheiten, ich lief zum Infotisch, fragte die benachbarte Vorsteherin, aber die hatte selbst genug zu tun. Meine Bitte, uns einen qualifizierten Vorsteher oder eine Vorsteherin zu stellen, wurde abgewiesen; wir sollten uns einfach ans Protokoll halten.“ „Natürlich passierten uns Fehler, so wurden die ungültigen Stimmen nicht richtig erfasst und wir wussten auch nicht, wie wir mit losen Wahlzetteln verfahren sollten. Ich fragte am Infotisch und am Nachbartisch und bekam zwei gegensätzliche Auskünfte.“ „Das Wahlamt stellte nur das finale Protokoll, in dem keine Änderungen gemacht werden können, und Schmierzettel zur Verfügung. Für alle Zwischenschritte mussten wir ein eigenes System entwickeln. So passierte uns bei den Bundestagswahlzetteln Übertragungsfehler. Zusammen mit der lückenhaften Erfassung von ungültigen Stimmen gingen die Zahlen nicht mehr auf.“ „Irgendwann brachte ich den Schnellmeldebogen zum Faxgerät.“ „Irgendwo fand ich auch noch 4 Stimmen für eine Kleinpartei, die nicht erfasst worden waren.“ „Der Vorsteher auf der anderen Seite war Student und sagte immer: Ich glaube, das funktioniert so. Aber sag mir, wenn ich daneben liege.“ „Gegen 22.30 Uhr waren einige Wahlhelfer erschöpft und verließen uns. Kurz nach Mitternacht gab ich die Wahlurne ab. Wir waren hungrig und durchgefroren und wünschten uns alle etwas mehr Unterstützung bei der nächsten Wahl.“ | |||||
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Wer wundert sich da noch, dass bei jeder Nachzählung etwas anderes herauskommt? In Charlottenburg-Wilmersdorf etwa (was für ein Zufall) war bei der Abgeordnetenhauswahl zunächst die SPD-Abgeordnete Franziska Becker als Siegerin ausgerufen worden – mit acht Stimmen Vorsprung vor dem Grünen Alexander Kaas Elias. Wegen eines „Übertragungsfehlers“ wurde neu ausgezählt – und jetzt lag die SPD-Kandidatin plötzlich mit 23 Stimmen zurück (6376 zu 6399). Pikantes Detail am Rande: Franziska Becker leitete als Vorsitzende die oben erwähnte Hauptausschusssitzung, bei der die Innen-Staatssekretärin erklärte: „Wir sind sehr gut vorbereitet.“ | |||||
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Und damit zur Senatsbildung. Gestern begannen die ersten Sondierungsgespräche – jeweils fünf Stunden saßen erst die Grünen, dann die Linken bei der SPD, am Montag kommen CDU und FDP vorbei. Und alle machen maximal auf gute Laune. | |||||
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Bei den Verhandlungen 2016 ging‘s dagegen ziemlich zur Sache, wie Bettina Jarasch, damals noch als Grünen-Landesvorsitzende mit am Tisch, vor zwei Wochen im Abgeordnetenhaus erzählte – hier das Parlamentsprotokoll: „Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Michael Müller! Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als wir Tage und Nächte zusammen verbracht haben (Heiterkeit im Saal), als wir nämlich vor fünf Jahren gemeinsam den Koalitionsvertrag für Rot-Rot-Grün verhandelt haben. Und ich erinnere mich daran, dass Sie, ganz der gute Gastgeber, der Sie sind, extra Sojamilch für uns organisiert hatten (Heiterkeit / Beifall bei Grünen, SPD, Linken / Paul Fresdorf, FDP: „Ihr wisst, wie man feiert!“) und dann ganz verdutzt waren, als wir nach Kuhmilch gefragt haben. Ganz so verschieden sind die Welten eben doch nicht, die damals zueinanderkamen. Das zeigte sich allerdings nicht nur bei der Kuhmilch im Kaffee (Burkard Dregger, CDU: „Ich empfehle ja Hafermilch!“), das zeigte sich vor allem beim Verhandeln, beim Ringen um die besten Lösungen für diese Stadt.“ | |||||
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So, und was kam gestern bei der ersten Runde im Kurt-Schumacher-Haus auf den Tisch? Mal schauen … also: Den Grünen servierten die einladenden Sozialdemokraten Süßkartoffel-Kokossuppe, Schnittchen und Panna Cotta. Die Linken bekamen Wraps mit Putenbrust und Salat, Camembert-Sandwiches und ebenfalls Panna Cotta. Das politische Menü wird dagegen erst in den kommenden Wochen zusammengestellt. | |||||
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Wir kommen zu den Auszeichnungen in der Kategorie „Berlinerinnen und Berliner der Woche“: Bronze: Hier gab es mehrere Nominierte. Zur Auswahl stand die Polizeistreife, die im Mauerpark den Kindern am Spielplatz eine Stunde lang geduldig ihren Wagen zeigte. Auch der unbekannte Wahlhelfer (m/w/d) vom Wahllokal 423, der (oder die) einen versehentlich eingeworfenen Impfausweis aus der Wahlurne fischte und dem Eigentümer nach Hause schickte, hätte es verdient – Checkpoint-Leser Michael Behrens schreibt: „Mehr Service kann man sich als Bürger eigentlich nicht wünschen. Danke an die Damen und Herren, die sich der Sache angenommen haben!“ Wir haben uns aber entschieden, mit Bronze die Landeswahlleiterin Petra Michaelis auszuzeichnen – sie übernahm als bisher Einzige Verantwortung für die Pannenwahl, bat um Abberufung nach Bekanntgabe der Ergebnisse am 14. Oktober und gab zu: „Wir haben die Herausforderungen alle unterschätzt.“ Chapeau. Silber … … geht an die Union-Fans, die am Donnerstagabend im Olympiastadion gegen die Antisemiten in den eigenen Reihen vorgegangen sind. Maccabi Deutschland schreibt dazu: „Diese Zivilcourage und Kultur ist es, die wir in unseren Stadien und auf unseren Sportplätzen brauchen, wann immer es zu Antisemitismus und Ausgrenzung kommt.“ Fans des israelischen Vereins Maccabi Haifa waren bedroht, mit Bier beworfen und judenfeindlich beleidigt worden. Gold: 18.375 parlamentarische Anfragen wurden in der vergangenen Legislaturperiode im Abgeordnetenhaus gestellt, ebenso viele Antworten gab es aus den Senatsverwaltungen – doch auf den Höhepunkt mussten wir bis zum Schluss warten. Da wollte der fraktionslose NPD-Fan Kay Nerstheimer wissen: „Wie äußert sich der Senat zur stetigen Zunahme der Demonstranten gegen seine Corona-Maßnahmen?“ Tja, was soll man dazu sagen? Martin Matz, Staatssekretär der Gesundheitsverwaltung, fand eine goldwertige Antwort (meine Oma hätte gesagt „goldig“): „Über die Veränderungen des Körpergewichts von Demonstrierenden gegen die Corona-Maßnahmen liegen dem Senat keine Erkenntnisse vor.“ So ahnungslos witzig war der Senat noch nie. Blech: Das hätten wir eigentlich unserem Bürokommunikations-Dienst Slack verleihen sollen – da lief nämlich über Stunden nichts (was die Checkpoint-Produktion in der Nacht zum Freitag erheblich ins Schleudern brachte). Hier die drei Stufen des Wartens: 1) „We are aware of connectivity issues“, 2) „We're seeing some signs of improvement“, 3) „Thank you for bearing with us. It will take some time …“ Indeed! Im Rennen war aber auch die dpa für ihre politische Fashion-Analyse – lesen wir mal rein: „Bei ihrem ersten Sondierungstreffen haben die Spitzenfrauen von SPD und Grünen in Berlin am Freitag im wahrsten Sinne des Wortes Stoff für Farbenspiele geliefert.“ (Hinweis: An dieser Stelle sich bitte auf die Schenkel klopfen). Es folgt der Hinweis auf den Mantel von Giffey (rot) und die Bluse von Jarasch (grün). Aber was soll es bedeuten, dass die Grünenpolitikerin eine schwarze Jacke und eine schwarze Hose trägt? „Etwa ein Signal für ein Bündnis auch mit der CDU?“ Leute, ihr seid da einer ganz heißen Sache auf der Spur! Blech geht aber in dieser Woche an alle Autofahrer (m/w/d), die ihre Karossen rücksichtlos auf Geh- und Radwegen sowie in Sichtachsen abstellen – und die sogar, wie an der Schillerpromenade, Zäune überfahren, um nach dem Rasen auf dem Rasen parken zu können. | |||||
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Weitere Meldungen des Tages: +++ Zehn Bürgerinnen und Bürger wollte der Regierende Bürgermeister gestern Vormittag im Festsaal des Roten Rathauses mit dem Verdienstorden des Landes Berlin auszeichnen: Gerlinde Bendzuck (LV Selbsthilfe), Michael Cramer (Europa-Radweg Eiserner Vorhang), Liv Lisa Fries (Babylonische Berlin-Botschafterin), Ute Hiller (Berliner Aids-Hilfe), Gerhard Kämpfe (Classic Open Air,Pyronale), Wolfgang Kohlhaase (Berlin-Filme), Dagmar Reim (RBB-Fusions-Intendantin), Pamela Schobeß (Clubcommission), Stephan Schwarz (HWK-Ehrenpräsident), Hagen Stamm (Wasserball-König). Um 11:50 meldete die Senatskanzlei: „Die heutige Aushändigung der Verdienstorden des Landes Berlin musste abgebrochen werden. Grund ist ein Notarzteinsatz für einen der Gäste. Wir wünschen auf diesem Wege alles Gute und eine baldige Genesung.“ Die „Morgenpost“ meldet dazu: „Am Rande der Veranstaltung sorgte ein Auftritt der Grünen für Unmut. Während im Festsaal der Mann offenbar um sein Leben bangen musste, ließen sich Grüne-Politiker in einem gemeinsamen Gruppenfoto ablichten (…) und lächelten dabei teilweise in die Kamera.“ +++ Die Reihe „Berlin in einem Satz“ wird Ihnen heute präsentiert von der Berliner Polizei (Merkmalszähler in Klammern: Red. CP): „Ein kleiner Mann (1) ohne Zähne (2) auf einem Fahrrad (3) soll, laut Anrufer (4), gemeinsam mit einer großen Frau (5) in Schöneberg im Umfeld eines Sexshops (6) Drogen verkaufen (7).“ Ok, macht sieben Punkte – wer bietet mehr? Aber jetzt erst mal nichts wie hin! +++ Für die neueste Folge unseres Checkpoint-Podcasts „Eine Runde Berlin“ war Ann-Kathrin Hipp mit Felix Kroos in der Stadt unterwegs – der Ex-Fußballer, der bis zum Sommer bei Union unter Vertrag stand, spricht u.a. über Leistungsdruck, Spielerfrauen und seinen berühmten Bruder. Wir würden uns freuen, wenn Sie mal reinhören und uns sagen, wie es Ihnen gefällt. +++ Nachtrag I: Bei den Ergebnissen aus 22 Wahlbezirken in Charlottenburg-Wilmersdorf, die nicht nur exakt gleich waren, sondern auch noch geschätzt wurden, handelt es sich um Stimmen für die BVV-Wahl (und ja, es gab hier noch mehr Wahlbezirke, bei denen es anders war). +++ Nachtrag II zur Meldung „Profs als Türsteher“: Die Berliner Hochschule für Technik (Ex-Beuth) stellt den Lehrenden für den Corona-Konfliktfall mit Lernenden jetzt einen Sicherheitsdienst zur Seite – in einer Mail an den Checkpoint heißt es zudem: „Durch unsere aufmerksamen Kontrollen an den Hauseingängen ist die Möglichkeit eines Streitfalls so gut wie nicht gegeben.“ +++ Nachtrag III: Die Meldung über die abermalige Bücherzerstörung in der Zentralbibliothek Tempelhof wird zum Mysterium – Kulturstadtrat Matthias Steuckardt spricht von einer „Fehlinformation“. Offenbar hatte jemand unter dem Namen eines realen Mitarbeiters eine gmail-Adresse angelegt, um einen dritten Vorfall zu behaupten. Wie gestern berichtet, passten die genannten vier Bücher nicht zum bisherigen politischen Muster. | |||||
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