wir leben in der Zeit von Abstand und Ferne. Glaubte man einst, dass der Mensch am Du zum Ich werden könne, wie es der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber einmal formuliert hat, so hat in Zeiten der Pandemie die Kopfgeburt wieder Hochkonjunktur. In der sozialen Distanz und in der voranschreitenden Lockdown-Isolation generiert und ergrübelt sich das Ich unentwegt selbst – geradeso wie Zeus, dem sein Fleisch und Blut aus dem eigenen Schädel entsprungen sein soll. Zuweilen ist das urmenschliche Bedürfnis nach Nähe sogar schon so weit zurückgefahren, dass die WHO jüngst davor gewarnt hat, Neugeborenen nicht aus Angst vor einer Covid-Infektion den Hautkontakt zur Mutter zu entziehen. In diese angespannte Situation hinein fällt nun ein berührendes Foto des dänischen Fotografen Mads Nissen: Auf diesem sieht man die 85-jährige Bewohnerin eines Pflegeheims in Sao Paulo, die zum ersten Mal seit über fünf Monaten Isolation wieder eine Verwandte umarmen kann – nicht Haut an Haut, sondern durch einen selbstgebauten „Umarmungsvorhang“ aus Plastik hindurch. Dessen Umrisse lassen die alte Frau wie einen aseptischen Engel erscheinen. Es ist ein vielschichtiges Foto; eine Ikone, gebaut aus Distanz und Nähe. Wäre nicht Corona, das Bild brächte auch so schon die gewachsenen Beziehungsängste in den modernen Gesellschaften auf den Punkt. Nissen jedenfalls, so ist gerade in Amsterdam bekannt gegeben worden, hat mit dieser eindringlichen Fotografie den World Press Photo Award 2021 gewonnen. Wer sich die bedeutendsten Momente des letzten Jahres noch einmal in Ruhe vergegenwärtigen möchte, der sei eingeladen, auf der Seite der World Press Photo Foundation vorbeizuschauen. Hauen und Stechen ohne Vorhang Wer indes im Hier und Heute bleiben möchte und sich fragt, wie lange man wohl noch durch Plastik wird umarmen müssen, dem sei das Cicero-Interview mit Klaus Cichutek, dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts, empfohlen. In diesem erklärt der Mikrobiologe, welchen Beitrag die Impfung bei der Bekämpfung der Pandemie leisten kann. Ebenso heutig ist unser Interview mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Matern von Marschall, der offen darüber spricht, warum er sich zusammen mit sechs weiteren CDU-Abgeordneten für Markus Söder als Kanzlerkandidaten ausspricht: „Auch ohne formale Erhebung kann ich sagen, dass Armin Laschet zwar die überwältigende Unterstützung seines Landesverbandes genießt, dass aber in fast allen anderen Landesverbänden Markus Söder gute bis sehr gute Noten bekommt“, so von Marschall in seiner Einschätzung der politischen Lage. Einen Vorteil übrigens hat das anhaltende Ringen um die Kanzlerschaft: Pandemisch betrachtet ist es relativ sicher. Zumindest braucht man für das unentwegte Hauen und Stechen keinen Umarmungsvorhang. Allen Lesern ein einigermaßen körpernahes oder zumindest geborgenes Wochenende! Ihr Ralf Hanselle, stellvertretender Chefredakteur |