Liebe/r Leser/in, als ich Mitte März Corona-positiv getestet wurde und den Arzt fragte, wie ich nun behandelt werden würde, sagte er: „Gar nicht. Und wenn, dann symptombezogen.“ Für mich als Patient war das natürlich eine höchst unbefriedigende Antwort, weil der Arzt und ich offensichtlich machtlos waren gegen diesen unsichtbaren Feind in meinem Körper. Es vergingen vier Wochen, an die ich mich mein Leben lang erinnern werde. Ich war zum ersten Mal in Quarantäne. Der Außenwelt versperrt mit leichten Corona-Symptomen, die da waren: kratziger Husten, etwas Schwächegefühl, Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns. Der Mitarbeiter des Berliner Gesundheitsamtes, der mir die Quarantäne offiziell verordnete und versicherte, sich täglich nach meinem Gesundheitszustand zu erkundigen, meldete sich übrigens erst nach 14 Tagen wieder – diesmal, um die Schutzmaßnahme aufzuheben (das soll nicht süffisant klingen, die Amtsmitarbeiter hatten wahrscheinlich einfach unglaublich viel zu tun mit Neuinfektionen). Um sicherzugehen, dass ich keine Gefahr mehr für andere bin, organisierte ich also nach der Aufhebung der Quarantäne einen neuen Test – einen Abstrich in Rachen und Nase beim HNO-Arzt. Ergebnis: erneut positiv, weiter Quarantäne; allerdings selbst auferlegt, weil sich niemand vom Gesundheitsamt mehr meldete. Die Woche drauf, gleiches Spiel: neuer Test, wieder positiv, wieder eine Woche daheim, weiter Homeoffice. Bis zu hundert Telefonate am Tag – 90 Prozent davon beruflich und somit halbwegs normal, zehn Prozent privat und meist verstörend. Denn ich hörte aus dem Freundeskreis die unglaublichsten Geschichten über Bekannte, die ebenfalls infiziert waren. Der eine auf der Intensivstation, ein anderer mit bleibenden Lungenschäden – drei entfernte Bekannte, zwei davon 52 Jahre alt, einer 42, starben. Wenn du zu Hause sitzt, Corona hast, es kein Gegenmittel gibt und du solche Storys hörst, wirst du verrückt. Ich fragte mich: Was passiert da in deinem Körper? Wann musst du ins Krankenhaus? Habe ich einfach nur Glück – oder kommt später die Keule? Warum habe ich keine schlimmeren Symptome, außer nichts mehr zu schmecken? Und wann schmecke ich wieder etwas? Nach vier Wochen wurde ich endlich negativ getestet. Ich durfte wieder raus. Mein Hausarzt untersuchte mein Blut und alle wichtigen Organe mit dem Ultraschallgerät, denn mittlerweile wusste man, dass das Virus nicht nur die Lunge, sondern auch andere Organe befallen kann. „Sie glauben gar nicht, wie wir gerade jeden Tag dazulernen“, sagte der Arzt, „denn dieses Virus ist für uns alle noch weitgehend unerforscht.“ Ich habe dank Corona aufgehört zu rauchen – beim Sport allerdings bekomme ich schlechter Luft als vor der Diagnose, dafür schmecke ich wieder. Es gibt mittlerweile zig Corona-Studien – zu angeblichen Spätfolgen, zur Wirkung von Nikotin und Covid-19, zu Corona und Säuglingen oder zu Wieder-Infektionen von bereits Geheilten. Was davon stimmt – ich weiß es nicht. In diesen Tagen, an denen der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow die allgemeinen Corona-Maßnahmen in seinem Land zurücknehmen will, obwohl eine zweite Infektionswelle jederzeit drohen kann, in Tagen, an denen der Virologe Christian Drosten attackiert und mit dem Tode bedroht wird und Anti-Regierungs-Demonstranten auf Polizisten losgehen, frage ich mich: Wann wurde in Deutschland aus Demut eigentlich Wut? Nur wenige Länder sind bislang so gut durch die Corona-Krise gekommen wie Deutschland. Wir werden für unser Krisenmanagement weltweit bewundert und fühlen selbst manchmal so wenig Dankbarkeit. Im Freundeskreis gibt es plötzlich Verschwörungstheoretiker; ein Kumpel wollte mir beispielsweise kürzlich ernsthaft erklären, dass das Virus mit Flugzeugen verteilt wird, um das Bargeld abzuschaffen. Es gibt so unzählig viele Menschen und Facebook-Gruppen, die glauben, die Wahrheit zu kennen. Jeder weiß es besser, jeder schreit – aber wenn ich eins gelernt habe, und deshalb wollte ich Ihnen meine Krankheitsgeschichte schildern: Wir wissen noch viel zu wenig! Wir machen Fehler. Wissenschaftler machen Fehler, Politiker machen Fehler – aber Fehler sind wichtig, denn aus Fehlern lernt man. Lesen Sie unsere Titelgeschichte ab Seite 28, eine erste Bilanz dieser Corona-Zeit. Wir stellen Fragen und ordnen Fakten ein. Und vielleicht ist nächste Woche schon wieder alles ganz anders. |