Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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27. Januar 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
es gibt Tage, die sind wie geschaffen dafür, das Leben aufzuräumen. Nein, nein, damit ist nichts Dramatisches gemeint, keine vorletzten Gedanken, und schon gar nicht das grauschwarze Nachsinnen darüber, wie und ob die Welt, ganz individuell gesehen, wohl noch existiert, wenn man selbst nicht mehr existiert. Man muss nur hin und wieder aufräumen, weil man umzieht oder ein Büro verlässt oder sich endlich mal mit diesem ganzen Zeug auseinandersetzt, das sich joebidenhaft angesammelt hat. Vieles davon kann weg.

An einem dieser Tage kramte ich also im Büro herum. In einem Aufbewahrungsmöbel fand ich ein paar Pappumschläge, wie man sie früher brauchte, weil Konzepte, Formulare, Briefe noch nicht digital in der Großen Wolke wohnten, sondern sich auf dem Schreibtisch stapelten. Mein früherer Chef, ein jovialer Mann, der mithilfe von grünen und gelben, handbeschriebenen Zetteln regierte („so geht das nicht, Herr Schulz“), war ein großer Schreibtischbestapler. Manchmal suchte man etwas Wichtiges, eine Bewerbung oder einen Arbeitsvertrag, und das Schriftstück fand sich dann zwischen einem Ausriss aus der FAZ und einer Diplomarbeit einer Journalistikstudentin. Manchmal fand es sich auch nicht. Bei meinem jetzigen Chef, dessen Chef ich mal war, ist das ganz anders. Der hat zwei oder drei Bildschirme, keine Papierstapel und trägt manchmal Schuhe mit weißen Sohlen. Das ist nicht verwerflich, aber mich erinnern weiße Sohlen immer an die Marine.

Marine? Vor langer Zeit hatte ich mal einen Chef in der Zeitung, der im Zweiten Weltkrieg U-Boot-Kommandant war. Und wir hatten damals einen Korrespondenten in Indien, der im Krieg auch U-Boot-Kommandant war. Statistisch war dies wenig wahrscheinlich, weil die U-Boot-Leute enorm hohe Verluste hatten (von rund 30 000 U-Boot-Fahrern haben nur etwa 4000 den Krieg überlebt). Dennoch trafen die beiden ehemaligen U-Boot-Offiziere bei Heimatbesuchen des Korrespondenten hin und wieder in der Redaktion aufeinander. Der Korrespondent, ein Kapitänleutnant a.D., hatte als Marineoffizier den höheren Rang als der Chef, der 1943 noch kein Chef war, sondern nur Oberleutnant zur See. Als Chef war der frühere Oberleutnant ziemlich autoritär und außerdem geizig, so als müsse er sein Geld ausgeben und nicht das der reichen Verleger. Der Kaleu a.D. konnte so wie kein anderer ein wenig von oben herab über den Chef lächeln. Den Chef hat das sehr gewurmt. Beide trugen keine Schuhe mit weißen Sohlen.

In den Pappordnern in meinem Büro waren viele Briefe, die ich aus irgendwelchen Gründen aufgehoben hatte. Die meisten davon, 15 oder 20 Jahre alt, bezogen sich auf Dinge, an die ich mich kaum mehr erinnere. Ein paar Briefe hebe ich auf, eher als Autographen, weil sie von Menschen stammen, die nicht mehr leben und die mal bedeutend waren, wenn auch nur vorübergehend. (Bedeutung ist bis auf ganz wenige Fälle ohnehin nur vorübergehend. Das Leben auch.) Es gibt auch einige Schreiben, über die ich immer noch lächeln muss, eher ein Leutnantslächeln als ein Kaleugrinsen.

Im Mai 2004 hat mir zum Beispiel der Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker geschrieben. Ich hatte damals in einer etwas garstigen Seite-Drei-Reportage den Vorabend jener Wahl geschildert, bei der es der noch die Opposition führenden Angela Merkel gelungen war, den später unglücklichen Horst Köhler in der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten küren zu lassen. Die Unionswahlleute trafen sich vorher in sehr großer Runde in der alten Westberliner Messe, um sich einzustimmen. Dabei hielt Weizsäcker eine, um bei den Marinedienstgraden zu bleiben, Admiralsrede, in der er die Parteifreundinnen und -freunde von hohem Podest aus ermahnte, die bevorstehende Wahl nicht als den ersten Teil des Machtwechsels zu instrumentalisieren, auch wenn sie das de facto war. Ich umschrieb den Eindruck, den Weizsäcker auf mich machte, mit dem Bild eines preußischen Adligen, der so wirke, dass man schon verstehe, warum 1918 die Herrschaft des Adels abgeschafft worden sei.

Weizsäcker wiederum setzte mir dann in einem freundlich-erbosten zweiseitigen Brief auseinander, dass er 1) Schwabe sei und 2) die Familie erst 1916, also gleichsam in letzter Minute, vom württembergischen König geadelt worden sei. Und er mutmaßte, wer ihn mit dem preußischen Adel in Verbindung bringe, müsse wohl ein Bayer sein, dem die Schwaben nicht lägen. Ich antwortete ihm damals unter anderem, mit letzterer Vermutung habe er recht. Allerdings war Richard von Weizsäcker auch der preußischste Schwabe, den ich jemals kennengelernt habe.

Die Gefahr an solchen Aufräumtagen ist, dass man nicht recht zum Aufräumen kommt. Da gibt es den Weizsäcker-Brief; die Beschwerde des belgischen Botschafters, weil ich mal in einem Streiflicht geschrieben hatte, dass Belgien nicht existiere; eine Empörung von Loriot über die SZ; eine höfliche Drohung von Guido Westerwelle ... ach, so vieles. Man sitzt und liest, und es wird dunkel, und es bleibt ein Stapel Papier auf dem Schreibtisch. Aber, wie man ja weiß, für Papier ist der Schreibtisch nicht mehr da. Papier weg, alles in die Große Wolke.

Nächste Woche kaufe ich mir Schuhe mit weißen Sohlen. Vielleicht helfen die beim Aufräumen.
Kurt Kister
Redakteur
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Hallo Chaos!
Schon längst geht es beim Aufräumen nicht mehr darum, ordentlich zu sein: Wer aufräumt sortiert angeblich auch Kopf und Leben. Wirklich?
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