Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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9. Juli 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
der Bundestag ist nicht ein Parcel-Service, der die Aufgabe hat, Gesetzespakete der Regierungskoalition schnellstens zur Unterschrift zum Bundespräsidenten zu befördern. Der Bundestag ist nicht ein Paketdienstleister wie DHL, DPD oder Hermes, bei dem die Zusteller freilich besonders qualifiziert sind und „in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt“ werden, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind“. „MdB“ heißt „Mitglied des Bundestags“, nicht „Mitglied der Bundespost“. Der Bundestag ist der zentrale Ort der deutschen Demokratie – nicht eine Regierungspost-Annahmestelle. 

Weil das so sein soll und so sein muss, hat soeben das Bundesverfassungsgericht in einer Eilentscheidung in das hastige Gesetzgebungsverfahren beim Gebäudeenergiegesetz eingegriffen und die Abstimmung darüber gestoppt. Der entscheidende Karlsruher Satz lautet: „Den Abgeordneten steht nicht nur das Recht zu, im Deutschen Bundestag abzustimmen, sondern auch das Recht zu beraten. Dies setzt eine hinreichende Information über den Beratungsgegenstand voraus.“ Dieser Satz war fällig. Er ist zukunftsrelevant. Jede Regierung der vergangenen Jahrzehnte hat nämlich immer wieder so getan, als sei das Parlament ein Störer bei der Lösung wichtiger Fragen und Probleme – bei der Anti-Terror-Gesetzgebung, bei der Banken- und Eurorettung, bei Corona.

Gesetze und Würste


Die Opposition, an der Spitze Friedrich Merz von der CDU, redet von einer Klatsche für die Ampel. Das stimmt zwar, ist aber nicht das Entscheidende. Entscheidend ist: Das Verfassungsgericht stärkt, wie schon oft, die Parlamentsrechte – und zwar diesmal in einem ganz zentralen Punkt. Dieser Karlsruher Beschluss ist ein berechtigter und notwendiger rechtsstaatlicher Kommentar zu einer berühmt-berüchtigten Bemerkung von Otto von Bismarck über Gesetze und Würste. Man sollte, so meinte er, „besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden“, weil man so nicht mehr ruhig schlafen könne. Der Satz gilt als Ausrede dafür, es nicht so genau zu nehmen. Man wird mit solcher Lässigkeit weder den Würsten noch den Gesetzen gerecht. Ohne penible Beachtung der Herstellungsverfahren gibt es weder gute Wurst noch gute Gesetze.
SZPlus Prantls Blick
Der Bundestag als Paketzusteller
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Ich wünsche Ihnen gute Ferien – Zeit zum Aufatmen und Zeit zum Durchatmen.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
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Prantls Leseempfehlungen
Zahnbürsten und Menschenrechte
Der Rechtsprofessor, der mich, es ist schon ewig her, für das Völkerrecht, für die Menschenrechte und das Asylrecht begeistert hat, hieß Otto Kimminich. Es war im ersten und zweiten Semester meines Studiums; Kimminichs Vorlesungen waren für mich das Spannendste, was die Juristerei zu bieten hatte. Der Ordinarius war ein leidenschaftlicher Humanist, einer, der sich wunderbar in Rage reden konnte, wenn es um Menschenrechte ging, einer, der Flucht und Vertreibung am eigenen Leib erlebt hatte. In Erinnerung sind mir seine Vorlesungen nicht nur deshalb, weil die Themen so aufregend und die Art seines Vortrags so temperamentvoll waren; in Erinnerung sind sie mir auch wegen der fast absurden Szenerie, in der sie stattfanden. Es war in einem der größten Hörsäle der Uni; dort verlor sich ein sehr kleines Häuflein von Studierenden, mehr als ein Dutzend waren es nie. Ich wunderte mich stets, warum da so wenig Interessenten waren – bis mir ein Kommilitone höheren Semesters ausführlich erklärte, dass das „Menschenrechts-Zeug“ zwar gut und schön und eigentlich ganz wichtig sei, „aber nicht klausurrelevant“; und ich solle deshalb schleunigst in die Vorlesungen über den Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches gehen und in die Vorlesungen über das Vertragsrecht, in denen man lernt, wie der Kauf einer Zahnbürste rechtlich funktioniert. Ich fand dergleichen zwar medioker, sah aber ein, dass die „Scheine“ in diesen Disziplinen abzulegen waren. Es war der kleine Abschied von einer großen Illusion über den Gehalt, das Wesen und den Wert der Rechtswissenschaft.

An die Völkerrechtsstunden bei Otto Kimminich habe ich bei Lektüre des grandiosen Buches von Philippe Sands gedacht. Sands ist Menschenrechtsanwalt und Professor am University College London, ein Kenner des Völkerrechts und ein kunstvoller Erzähler. In seinem Buch „Die letzte Kolonie“ schildert er die Entwicklung des Völkerrechts am Exempel der Bewohner des Chagos-Archipels, der mitten im Indischen Ozean liegt, zwischen Madagaskar und Sri Lanka. Die Insel wurde von den Briten an die Amerikaner verschachert, die Chagossianer mit Waffengewalt vertrieben; sie passten nicht in die geopolitischen Strategien und sie passten nicht zu den militärischen Experimenten, die stattfinden sollten. Hier, im Kleinen, lässt sich die Herablassung, der Dünkel, die Überheblichkeit und die neokoloniale Arroganz der Großmächte gut erklären. Sands macht das packend und mit kimminich’scher Verve.

David Pfeifer, der SZ-Korrespondent in Süd-Ost-Asien mit Sitz in Bangkok, hat über dieses Buch geschrieben: „Wer heute begreifen will, wieso die Inder nicht gleich dabei sind, wenn westliche Staatschefs Solidarität bei den Sanktionen gegen Russland fordern, oder wieso viele afrikanische Regierungen lieber mit Russen und Chinesen paktieren als mit den Europäern oder Amerikanern, sollte das Buch dringend lesen.“ Er hat recht. Dieses Buch ist ein Lehrstück. Ich stelle es mir ins Regal neben das „Humanitäre Völkerrecht“ meines Lehrers Kimminich.

Philippe Sands: Die letzte Kolonie. Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean. Das Buch ist 2023 im S. Fischer Verlag erschienen. Es hat 320 Seiten und kostet 25 Euro. Thomas Bertram hat es aus dem Englischen übersetzt.
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Der schlimmste Irrtum ist der Justizirrtum
Manfred Genditzki ist ein Justizopfer; er saß 13 Jahre lang unschuldig in Haft. Er war in einem fragwürdigen Indizienprozess als Mörder einer alten Frau zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Soeben wurde er in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Hans Holzhaider ist ein journalistischer Kollege, der dieses Verfahren penibel, akribisch und nachhaltig begleitet hat. In der SZ-Wochenendausgabe, im Bayernteil, schildert er nun diesen Freispruch und die Reaktionen darauf („Ein Freispruch mit Diamanten“). Er zitiert unter anderem Laurent Lafleur, den Pressesprecher des Oberlandesgerichts München, der die Rolle der Rechtsanwältin Regina Rick besonders gewürdigt hat. Ihr habe Genditzki den Freispruch zu verdanken; die Strafverteidigerin hatte den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aufwändig vorbereitet.

Ein Lob gebührt auch dem Kollegen Gerichtsreporter Hans Holzhaider: Er hat die furchtbaren Facetten des Falles immer und immer wieder kundig beschrieben und so dazu beigetragen, dem Recht zum Recht zu verhelfen.
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