Zahlen sind wirklich faszinierend. Nahezu alles lässt sich mit ihnen berechnen oder mindestens in ein objektiveres Verhältnis setzen: Egal ob Wählerwanderungen, Inzidenzen oder Lockdown-Kosten: In der Moderne gibt es nahezu nichts, was sich nicht durch Chiffren und Zahlen annähernd genau beziffern ließe. Vermutlich wären wir noch immer in der Unwissenheit des Mittelalters gefangen, wäre nicht im Jahr 1202 der italienische Mathematiker Leonardo Fibonacci auf die geniale Idee gekommen, dem gemeinen Christenmenschen die morgenländische Algebra und somit natürlich auch die arabischen Ziffern näherzubringen. Fibonaccis Traktat „Liber Abaci“ lieferte damals den Grundstock für den Aufstieg der abstrakten Wissenschaften. Fortschritt, das ist eben immer auch ein Stück weit Erbsenzählerei. Doch Obacht! Wer allzu oft summiert und unterm Strich zusammenzählt, wird durch derlei nüchterne Techniken nicht automatisch schon zum aufgeklärteren Zeitgenossen. Seit jeher belegen Numerologie und Zahlenmystik, dass selbst in abstrakten mathematischen Objekten eine Art irrwitziger Zauber, vielleicht sogar ein Aberglaube wohnen kann. Man denke nur mal an die Kabbala oder an Corona: Seit über einem Jahr bekommen wir die aktuellsten Infektions- und Sterbezahlen mittels ausgetrockneter Tinte in nüchternen Zahlenreihen und Tabellen präsentiert. Klüger geworden aber sind wir nicht. Ein realistisches Bild Im Gegenteil, eine aktuelle Umfrage unter mehr als 3000 Deutschen zeigt, dass die allermeisten Menschen das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung um ein Vielfaches überschätzen. Laut Manuel Schabus, Bewusstseinsforscher an der Universität Salzburg, liegt der Überschätzungsfaktor bei der Gruppe der über 70-Jährigen bei 7, in der Gruppe der 30-39-Jährigen sogar bei 38. So viele Zahlen also, und dennoch scheinen sie für das eigene Leben kaum Nutzen gebracht zu haben. Wollte man die persönliche Risikoabwertung wieder auf Real-Maß herunterschrauben, wäre es sicherlich gut, die Zeitungs- und Fernsehredaktionen reduzierten ihre Corona-Berichterstattung ebenfalls um das 7 bis 38fache. Vermutlich erhielte man erst dann wieder ein realistisches Bild von einer ja durchaus realen Gefahr. Bei Cicero-Online haben wir heute schon einmal damit begonnen. Statt Artikel über Lauterbach oder Wieler bieten wir heute vor allem Nachlesen zur gestrigen Landtagswahl in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Hugo Müller-Vogg etwa weist in seiner Wahlanalyse darauf hin, dass die Niederlage der CDU nicht auf Amtsvorteile von Winfried Kretschmann und Malu Dreyer zurückzuführen sind. Die Union habe ihr schlechtestes Ergebnis selbst zu verantworten. Ähnlich sieht das Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier, der gestern die politische Spitzen-Runde bei Anne Will verfolgt hat. Auch er stellt der CDU ein schlechtes Zeugnis aus: „Da hat man sich anderthalb Dekaden lang überall angebiedert und steht am Ende womöglich doch mit leeren Händen da. Eine bittere Erkenntnis.“ Man wird den Schaden sicherlich bald noch genauer beziffern oder gar nachrechnen können – spätestens bei der Bundestagswahl. Ihr Ralf Hanselle, stellvertretender Chefredakteur |