Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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14. Juni 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
jeder anständige Marxist – das muss kein Widerspruch in sich sein – weiß, dass der Meister 1852 geschrieben hat, Geschichte ereigne sich zweimal, einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Warum er das so geschrieben hat und wie er sich dabei auf Hegel und Napoleon eins sowie drei bezog, sei hier, in einer eher heiteren, physisch und psychisch am Ende der Zeitung stehenden Kolumne, nicht weiter ausgeführt. Dennoch dachte ich wieder mal an dieses Zitat, als ich in den vergangenen Tagen überall das Gesicht von Sahra Wagenknecht sah, das mich, nicht etwa wegen Wagenknechts Familienstands, an Oskar Lafontaine erinnert hat.

Lafontaine ist im Sinne des zitierten Marx-Gedankens Geschichte. An der Richtigkeit seiner Weltanschauung nicht zweifelnd, zu der die Erkenntnis gehörte, dass der Feind zumindest auch in der eigenen Partei stehe, trug er als klassischer linker Dissident in den 2000er-Jahren nicht unerheblich dazu bei, dass die SPD heute da ist, wo sie manchmal mehr Mitleid als Streitlust erregt. Lafontaine würde sagen, nicht er war’s, sondern Schröder. (Den kann man heute sowieso für fast alles verantwortlich machen, sogar für Olaf Scholz.) Lafontaine gelangte über die WASG, die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit, die immerhin nicht WOL, Wahlalternative Oskar Lafontaine, hieß, an die Seite der PDS und mit ihr in die Linkspartei, die er als linker Dissident später auch wieder verließ. Die Linkspartei ist heute da, wo sie nicht einmal mehr Mitleid erregt.

Wenn also Lafontaine Geschichte ist, könnte der Zustand der SPD die Tragödie sein. Dann wäre das Zerbröseln der Linkspartei unter tätiger Mithilfe von Wagenknecht die zugehörige Farce. Als politischer Prozess ist die Farce historisch belegt. Unter linken Parteien und Bewegungen ist die Bereitschaft, mit der Zeit in immer mehr, einander befehdende Parteien und Bewegungen zu zerfallen, so wohl dokumentiert, dass es sich fast schon um eine Gesetzmäßigkeit handeln müsste, glaubte man denn, so wie das anständige Marxisten taten, an historische Gesetzmäßigkeiten. Manche Republiken sind an den Fehden der (linken) Demokraten gestorben; die Rechten mussten dann nur noch die Leiche neu herrichten.

Auch wenn man es als Politik- und Menscheninteressierter kaum glauben mag, ist die selbstsichere Bescheidenheit der Sahra W. noch stärker ausgeprägt, als es das Bekenntnis Lafontaines zu Lafontaine war. Nicht von ungefähr trägt das Bündnis ihren Namen. Als linksrechte Dissidentin hatte sie den verbliebenen Linkspartei-Laden gemeinsam mit neun anderen Bundestagsabgeordneten m/w/d so rechtzeitig verlassen, dass es jetzt eine Bündnis-Sahra-Wagenknecht-Gruppe im Bundestag gibt. Alle ihre Angehörigen sind nur deswegen im Parlament, weil bei der Wahl 2021 die Linkspartei zwar an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist, drei Kandidaten der Linken aber Direktmandate gewonnen haben. Getreu der bekannten Maxime „expropriiert die Expropriateure“ haben die BSW-Leute ihre Linkspartei-Mandate der Linkspartei enteignet.

Möglicherweise hängt der jüngste Erfolg des BSW bei der Europawahl doch davon ab, dass die Partei so heißt, wie Sahra Wagenknecht ist. (Oder ist es andersherum?) Wer sonst könnte „Frieden jetzt“ mit der phänotypischen Glaubwürdigkeit einer Frida Kahlo als Wahlversprechen anbieten – vielleicht gerade noch Donald Trump, der bekanntlich innerhalb eines Tages den Krieg in der Ukraine beenden würde? Der Anfang von „Frieden jetzt“ wurde diese Woche schon mal gemacht, als BSW und AfD gemeinsam nicht der Rede des ukrainischen Präsidenten im Bundestag zuhören wollten. Zuhören mögen weder solche Linke noch solche Rechte, wobei man von solchen Linken oft nicht ganz genau weiß, welche Linke sie sind, respektive wann ihre Querfrontinstinkte einsetzen.

Ob denn das Wagenknecht-Rezept auch anwendbar wäre für andere Parteien? Also nicht nur Olaf ohne Text groß aufs Plakat, weil das erstens nicht schön ist und zweitens nicht funktioniert. Stattdessen neue, personalisierte Bündnisse für die nächste Wahl: LAL (Liberale Allianz Lindner) oder AFF (Alle für Friedrich). In Frankreich werden für die Präsidentschaftswahlen auch oft neue Parteien um einen Kandidaten herum erfunden. Und in Italien entstehen, hat man zumindest das Gefühl, sowieso dauernd neue Bewegungen, die dann mehr oder weniger lang regieren. Sogar in Ungarn hat jetzt einer mit dem sprechenden Namen Péter Magyar, den man vor ein paar Monaten kaum kannte, bei der Europawahl an die 30 Prozent geholt.

Vielleicht also ist die Farce die Zukunft. Grundsätzlich wäre das besser, als wenn die Tragödie die Zukunft wäre, wonach es leider im Moment eher aussieht. Allerdings muss auch die Farce irgendwann zu Ende gehen. Was aber folgt dann auf die Farce? Eine neue Tragödie? Die einschlägige Literatur (Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“) sagt zum weiteren Ablauf des Tragödie-Farce-Prozesses nichts aus. Es könnte eine Tragödie-Farce-Endlosschleife sein. Oder die Tragödie dehnt sich so lange aus, dass man sie für die Normalität zu halten beginnt. Allerdings spricht vieles auch dafür, dass die Normalität eine Farce ist.
Kurt Kister
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Vom Dachau der Nachkriegszeit hinaus in die Welt: Unser Autor lebt gerne in Deutschland – trotz der schwierigen Geschichte dieses Landes. Aber was heißt das eigentlich, ein Deutscher zu sein?
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